Tuesday, August 14, 2007

Katrin Hiller zu Susanne Ayoub: "Sarah Kanes Absolutheitsanspruch endete im Tod"








Der Tod als
Umkehrung der Liebe. Für zwei junge, begabte Frauen war der Tod reizvoller. Für Sarah Kane, bereits zu Lebzeiten britischer Star unter den
Dramenschreibern, und Flora S., Langzeit-Geliebte des Malers und Bildhauers Alfred Hrdlicka. Beinahe gleichzeitig nahmen sie sich Anfang 1999 das Leben.



Susanne Ayoub und Katrin Hiller (photo-Faksimile © Niki Similache)


Regisseurin KATRIN HILLER, die Kanes Stück Gier 2000 am Wiener Burgtheater inszenierte, und Autorin SUSANNE AYOUB, die die im Molden-Verlag erschienene Reportage Alfred Hrdlicka und der Fall Flora verfaßte, sprechen anhand ihrer Arbeiten über Motivation und Seelen der beiden Frauen. Besonders Sarah Kanes psychische Verfassung macht die inneren Vorgänge transparent, die zuletzt einige österreichische Künstler in den vorzeitigen Tod getrieben haben müssen. Und ihre Dialoge zeigen voll von dichterischer Brillanz, woran es dieser Frau am meisten fehlte: Am Gefühl, geliebt zu werden.


Spotlight SARAH KANE (geb. 3.2.1971 in Essex (Sternbild Wassermann); † 20. Februar 1999 in London) hat fünf artistisch höchst virtuose und radikal-intensive Dramen hinterlassen: Zerbombt, Phaidras Liebe, Gesäubert, Gier und Psychose. Gesäubert wird vom 25.9.-30.9.2007 im Wiener WUK, Projektraum, 20h, unter der Regie von Jérôme Junod aufgeführt (Click zur: Kritik). Die Autorin schrieb es während ihres Aufenthalts in einer psychiatrischen Anstalt - denn sie litt in ihren letzten Jahren immer stärker an (manischer) Depression -, wo auch der Schauplatz des Stückes ist. Die Insassen pendeln zwischen Leben, Liebe, Wahnsinn, Sadismus, Tod und Erlösung. Ihr (Kanes) Absolutheitsanspruch steht exemplarisch für jene bekannten Kunstschaffenden, die sich in letzter Zeit umbrachten: Marie Zimmermann, Jörg Kalt, Georg Staudacher, Matthias Maier (Hias). Sie alle waren für ihren Fleiß und Ehrgeiz, ihre extreme Nachdenklichkeit und hohe Konzentrationsfähigkeit bekannt, was sich in fanatischer Präzisionsgenauigkeit ausdrückte. Als übersteigertes Bedürfnis, gründlich zu sein. So, wie es denn auch ihr Todesvollzug war.

Kurzprofile SUSANNE AYOUB ist in Bagdad geboren, ab sechs in Wien aufgewachsen, wo sie auch Theaterwissenschaft studierte. Sie verfaßte Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und heute vor allem Romane im Themenkreis Künstlerleben, Politik, Liebe und Kriminalität. KATRIN HILLER ist 1973 in Hannover geboren und studierte in Hamburg Soziologie und Germanistik. Nach Regieerfahrungen als Assistentin studierte sie an der Folkwang-Hochschule Regie. Sie lebt als freischaffende Regisseurin in Wien und arbeitet(e) für das Burgtheater, Volkstheater und freie Bühnen.


Sarah Kanes und Floras Gier nach Liebe


Fünf Textauszüge aus
Sarah Kanes Stück Gier
auf Porträts der Autorin

SUSANNE AYOUB: Floras Fantasie vom Tod, dass er im Gegensatz zum Leben schön sein muß, verknüpft sie mit ihrer Liebe zur Oper und zum Theater, schwärmerisch und gewalttätig. Unheimlicher Weise schreibt sie, "seit ich zwölf Jahre alt bin, träume ich vom Liebestod", und mit 37 bringt sie sich um. Das klingt wie eine Inszenierung. Sie empfand es aber auch als Tragödie, neben ihrem Geliebten Alfred Hrdlicka so unbedeutend zu sein.
KATRIN HILLER: Über Sarah Kanes Selbstmord kann man nur anhand ihrer Stücke und Interviews spekulieren. Sie hat sich schon früh mit Gewalt und Mißbrauch auseinander gesetzt. Dem Stück Gier ist dann eine relativ lange Phase des Liebeskummers vorausgegangen, was der Auslöser gewesen sein könnte. Die Todessehnsucht ist in Gier allerdings mit Identitätsfindung gleichzusetzen, einer Suche nach dem "Wer bin ich?". Es geht um Gier nach sich selbst über andere Menschen. Aber vor allem um Gier nach dem "Einssein" und "Integriert sein mit sich selbst". Todessehnsucht als Zustand, in dem man ganz bei sich ist, ganz ehrlich und ganz nackt. Natürlich bedeutet das auch eine Erlösung, einen, psychologisch gesehen, absoluten Befreiungsschlag.
AYOUB: Auch Flora hatte ein schweres Identitätsproblem und war fixiert auf Alfred Hrdlicka, ihm vielleicht sogar hörig. Rein äußerlich war sie jedoch exaltiert, schwärmerisch, sehr, sehr ehrgeizig, kurz eine Frau, die sich dank ihrer Ausbildung zur Schauspielerin wahnsinnig gut in Szene und durchsetzen konnte.
HILLER: Sarah Kane erschien sicher als das Gegenteil: klein, leise und nachdenklich sprechend, mit einem ab-und-zu frechen Grinsen im Gesicht, stets freundlich, wahrhaftig, intelligent und Musik liebend, kein Egoist, sondern interessiert an anderen jungen Dramatikern. Doch in der letzten Entscheidung war sie absolut hart und konsequent. Was ja auch ihr Selbstmord beweist. Und unter der Härte mit sich selbst, verbargen sich mit höchster Wahrscheinlichkeit enorme Einsamkeit und Verletzlichkeit. Denn sonst würde man diese Härte ja gar nicht entwickeln.
AYOUB: Und wenn man so hart ist, kann man sich keine Ruhe gönnen oder sagen "ich will nicht mehr und ziehe hier meine Grenze". Die einzige Grenze ist der Tod, und das ist das Fuchtbare daran. Vielleicht besteht das Kranke darin, dass man es nicht schafft zu sagen, "das bin ich, das sind die anderen, und ich bin wichtiger". Flora hat sich in den letzten eineinhalb Jahren immer mehr an ihren Geliebten geklammert. Von der Umwelt und Freunden hat sie sich zurückgezogen und extra nur am Wochenende beim Fernsehen gearbeitet. In Briefen, die man nach ihrem Tod gefunden hat, sagt sie, dass sie es nicht mehr aushalte und ihr alles über den Kopf wachse. Dabei hat sie noch ein Haus renoviert, große Feste gegeben und war sie zunehmend erfolgreich. Darin besteht der Widerspruch.
HILLER: Sarah Kane war sogar höchst erfolgreich. Es ist sehr bezeichnend, dass sie in den ersten Stücken noch Gewalt in den Mittelpunkt stellt und zerstören will, insgesamt aber der Glaube an die Erlösungskraft der Liebe überwiegt. Während sie Gier schrieb, litt sie schon unter Depressionen, und sie bezeichnet es als ihr hoffnungslosestes Stück. Weil es nur noch über die Sprache funktioniert, wo es nicht einmal mehr die Gewalt gibt. Man hat das Gefühl, dass sich die Figuren in einem logischen System bewegen, wobei die Härte der Logik nur im Todeswunsch enden kann. Sie sagt, es gehe ihr um die absolute Wahrhaftigkeit über die Sprache. Nur, das Leben ist nie so konsequent, dass man sagen kann: "Das ist die absolute Wahrheit, das absolute Glück". Es ist immer nur in der Mitte zu finden, zwischen zwei Extremen.
AYOUB: Vielleicht war Sarah Kane früher in ihrer Auseinandersetzung mit dem Sterben schon sehr weit, und dann haben äußere Umstände das wieder ins andere Extrem gelenkt. Umgekehrt gibt die zufällig geretteten Selbstmörder, die später einen anderen Ausweg fanden, indem sie die Umstände oder ihr Leben einfach geändert haben.
HILLER: Es gibt ja eine Zeitspanne im Stück, wo man das Gefühl hat, sie reden nicht mehr darüber, sondern die Entscheidung, sich zu töten, ist gefallen. In dem Moment wird das Stück sehr hell und leicht und sehr freudig. Und wir fragen uns, ob wir diesen Moment nicht so auslegen, dass wir sagen: wenn man im Moment lebt und weniger das absolute Ideal sucht, liegt darin vielleicht der Ausweg? Wir sind uns auch nicht sicher, ob sich die vier Figuren am Ende tatsächlich töten werden. Wenn sie das Glück der Entscheidung spüren, könnten sie weiterleben wollen.
AYOUB: Das kann ich gut nachvollziehen. Das Loslassen von Idealen ist eine Erlösung.
HILLER: Und man gewinnt die Erkenntnis, dass dieser Moment der Erlösung im Leben zwar nicht ewig hält, aber immer wieder kehren kann, und nicht nur über den Tod entschieden werden muss.

Über Gewalt zur Nähe bis zum Tod

AYOUB: Man sollte sich vielleicht fragen, wie denn die Liebe als Gegenpol zum Tod bei beiden ausgesehen hat: Flora erlebte zum Beispiel mit Hrdlicka eigentlich ihre einzige ernst zu nehmende Liebesbeziehung. Sie liebte ihn schon, bevor sie mit ihm zusammen war. Von ihrer sexuellen Beziehung kenne ich nur seine Seite. Er hat es gezeichnet, sie hat es gezeichnet. Es gab die Sehnsucht zu gefallen, und zu machen, was der Partner wünscht. Flora wünschte sich, in seinen Armen zu sterben und während der Liebe gewürgt zu werden. Er tat es bis zu dem Grad, dass sie dadurch einen intensiveren Orgasmus erleben konnte. Aus ihren Bildern habe ich herausgelesen, dass sie einfach zu viel wollte, aber ob Engel oder Hure, es hat einfach nichts gereicht. Sie wollte alles sein. Das ist eine Fantasie von einer Frau, die es in Wirklichkeit nicht geben kann. Und eigentlich eine Männerfantasie.
HILLER: In Gier wird die Liebe durch die Auflösung im Anderen, das Finden von sich selbst im Anderen beschrieben, also ebenfalls in einer sehr extremen Form. Gleichzeitig gibt es aber den Schmerz der Unmöglichkeit der Vereinigung oder der Liebe. Die Frage ist: "Ist wahres Geben möglich, wahres Gesehen-werden?", und wird immer wieder durch die Unmöglichkeit des Gebens und Bekommens, des Wahrnehmens, des Gesehen-werdens beantwortet, wenn man es absolut denkt. Nähe kann nicht wirklich aufgebaut werden, es schwankt ständig zwischen Nähe und Distanz.
AYOUB: Flora hat schon Nähe gebraucht und sich genommen, nur genügte ihr das nie. Und das ist der entscheidende Punkt: es genügt nie. Es ist dieser Absolutheitsanspruch, den wahrscheinlich niemand erfüllen kann. Wenn man sich die Latte so hoch hält, kann man nur total enttäuscht werden. Auch in Floras Gewaltdarstellungen wie zerstümmelte Körper und Waffen zeigt sich diese Konsequenz, die Dinge ganz unerbittlich, sich selbst verletzend, zuende zu denken.
HILLER: Die stark präsente Gewalt bei Kane steht wiederum dafür, etwas, sich selbst durch den Kampf spüren zu wollen. Hinter solchen großen Bildern kann etwas Prinzipielles stecken. Wobei sicher in beiden Frauen gleichzeitig großer Selbsthaß schlummert. Kane lässt eine Frau in Gier sagen: "Ich bin scheiß verloren, in dieser Sauerei von Frau", "Ich wünsche, ich wäre wäre schwarz zur Welt gekommen, männlich und attraktiver". Solche Menschen, die sehr in Extremen wie gut und schlecht denken, können andererseits eine enorme Kraft entwickeln. Nur muß man sich halt dann schon eingestehen, sich anstrengen zu müssen, um zum Ziel des "Guten" zu gelangen. Vielleicht stecken dahinter also einerseits Machtfantasien, andererseits der Wunsch nach Nähe zum geliebten Mann. Und Sexualität und Tod haben ja auch zum gemeinsamen Ziel die extreme Form von Nähe. Gerade der gemeinsame Liebestod bedeutet die Auslöschung von einem selbst im anderen. Deshalb sterben auch in Gier alle.

Kunst als Hilfe aus dem, nicht zum Leid

AYOUB: Die Frage ist nur, inwiefern Wahnsinn und Depression dieser Art mit Kunst-an-sich zu tun haben? - Flora sagte selbst: "Wenn man nichts hat, hat ein Genie zumindest noch seine Kunst, auch wenn es noch so leidet." Für den Künstler ist Leid ein Ansporn. Deshalb hat Hrdlicka ja auch vieles über die Beziehung zeichnerisch dargestellt. Selbst Sartre sagte: "Unglücklich zu sein, ist die einzig interessante Existenzform, denn sonst bräuchte man überhaupt nichts zu schreiben." Das halte ich eigentlich auch für ganz gescheit.
HILLER: Aber nicht jeder, der Kunst macht, leidet an einer Krankheit oder unter großem Leid. Ich halte die Bewerbung von solchen Seelenvoraussetzungen für eine gefährliche Verzerrung der Tatsachen. In Wahrheit ist das Kunstschaffen ja eine Hilfe für das Leben, wie zu zeigen, dass kleine Entscheidungen im Leben das wahre Glück bedeuten. Wir sind hier sicher nicht alle verrückt!



(Gesprächs-Auszug vom Herbst 2000, volle Länge, geführt von ELFI OBERHUBER, in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Sunday, May 20, 2007

Heribert Sasse zu Marie Zimmermann 2: "Das Furchtbare liegt in der Wiederholbarkeit"


Heribert Sasse (Foto © Michael Dürr, Faksimile)

Der Schauspieler und Regisseur des Theaters in der Josefstadt HERIBERT SASSE diskutiert mit Wiener-Festwochen - Schauspieldirektorin MARIE ZIMMERMANN, die sich im April 2007 das Leben nahm, und ELFI OBERHUBER über den Zusammenhang zwischen Theater und Religion, Hitler als Dämon oder Grotesker und Helden-an-sich. Zu Einführung und Teil 1 scroll down.

Kurzprofil HERIBERT SASSE, geb. 28.9.1945 in Linz (Sternbild Waage), aufgewachsen in Wien. Als Elektrotechniker mit 18 Musikstudium am Max Reinhardt-Seminar Wien. Ab 1969 jedoch Schauspieler (+ Techniker, Inspizient) am Wiener Volkstheater; Wechsel nach München, Berlin (Staatliche Bühnen), als Regisseur auch am Düsseldorfer Schauspielhaus, an der Josefstadt und am Volkstheater Wien. 1980-´85 Intendant des Berliner Renaissancetheaters, ´85-´90 Generalintendant der Staatlichen Bühnen Berlin, 1995-2002 Intendant am privaten Schlossparktheater Berlin. 2005/2006 wurde er zur zentralen Schauspielerpersönlichkeit der Direktions-Ära Michael Schottenberg am Volkstheater und ließ sich wieder in Wien nieder. 2006/2007: Wechsel ans Theater in der Josefstadt in Wien, dessen neuer Direktor Herbert Föttinger ihn mit großen Schauspiel- und Regieaufgaben betraut: Am 24., 28., 29.5.2007: 19h30 spielt er in der Josefstadt in Der Revisor den Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowskij, in den Kammerspielen führt er in Mich hätten Sie sehen sollen Regie (zum letzten Mal: 27.5.2007: 20h). In der kommenden Saison spielt er in Der Diener zweier Herren in der Josefstadt ab 15.11.2007 den Pantalone. Vielfach ausgezeichnet.


Der Jungen emphatische Lust auf Ängste

Marie Zimmermann (Foto © Michael Dürr, Faksimile)

MARIE ZIMMERMANN: Das schließt schön an ihrer anfänglichen Definition vom Helden an. Der Unterschied vom Theater zur Kirche ist nur: Im Theater muß ich nicht glauben. Das ist eine absolut undogmatische Kunst.
HERIBERT SASSE: Doch, das müssen Sie. Da sehe ich die Kirche anders. Obwohl ich aus der Kirche schon lange ausgetreten bin.
ZIMMERMANN: Ich bin nun mal mit einem positiven Katholizismus des Johannes,dem 23., groß geworden.
SASSE: Na, vielleicht kommen wir ja doch noch ins Streiten: Nein, Sie müssen im Theater glauben. Wahrscheinlich sagen wir eh dasselbe. So wie Sie nach Brook der Tagesschau glauben, dass sie die Tagesschau ist, glauben Sie auch im Theater, dass es jetzt passiert.
ZIMMERMANN: Genau. Aber ich weiss, dass ich Meines zu diesem Glauben beizutragen habe. Auch als Zuschauer.
SASSE: Das hätten Sie in der Kirche doch auch. Nur ist es der Kirche abhanden gekommen, das so zu gestalten ...
ZIMMERMANN: Wir können ja auch über Glauben und Wissen streiten. Das wäre auch eine interessante Debatte.
SASSE: Durchaus...
ZIMMERMANN: Ich glaube, der Verbindungspunkt zwischen Helden, Kirche und Theater liegt darin, dass Theater als aktivste Kunst von der Lebensangst handelt und von nichts anderem. Es geht nur um die drei großen Themen: Liebe, Tod; und das Unglück anderer Leute, was meistens in Komödien behandelt wird. Schon die alten Griechen haben in ihrem merkwürdigen Theaterbegriff der Katharsis davon gesprochen, dass man sich - ausgehend vom Umstand, immer wieder dieselben Fehler zu machen, sozusagen vorsätzlich am eigenen Unglück zu basteln, während man aber meint, man bastle gerade am Lebensglück - vom Unheil reinigen und wieder von vorne anfangen kann. Dass also Leben etwas mit schuldig werden zu tun hat, gibt es nur im Theater und in der Kirche. Jede Handlung könnte falsch sein. Und der damit einhergehenden Angst hat man sich zu stellen. So wie der entführte Jan Philipp Reemtsma - während seiner Gefangenschaft über sechs Wochen in einem jämmerlichen Kellerloch - beschreibt, wie das aus der Psychologie bekannte Phänomen bei ihm einsetzt, dass er sich als kampfaufgebendes Opfer mit dem Aggressor zu identifizieren beginnt und fast Liebe von dem Menschen haben will ...
SASSE: ... der ihn quält.
ZIMMERMANN: ... der ihn zerstört, ja.
intimacy-art: Also die klassische Mann-Frau-Beziehung, nicht?
ZIMMERMANN: Und in dieser reflexiv bewußten Selbstaufgabe, worin er all seine bisherigen Wertmaßstäbe weg wirft, fällt der Satz, der mich wie ein Fallbeil getroffen hat und mich seitdem begleitet: "Vielleicht sind unsere Utopien ja nichts anderes, als unsere durch Hoffnung entstellten Ängste." Zwischen den Menschen, die 1930, die 1970, bzw. zwischen 1975 und heute geboren sind, gibt es innerhalb dieses Mechanismus aber jetzt eine Bruchlinie. Diese jüngere Generation hat eine fast emphatisch-verzweifelte Lust, sich den Ängsten zu stellen. Das nimmt Ausdrucksformen an, die zum Teil unerträglich, andererseits aber auch künstlerisch sind. Wie in dem Fußballstück I Furiosi mit acht außerordentlich unsympathischen Jungbullen, sprich Hooligans, von denen man als Außenstehender eigenlich nichts wissen will, man nach dem Stück aber zumindest Verständnis aufbringen kann. Und darum geht es insgesamt in der Kunst: dafür zu werben, dass es die Möglichkeit gibt, zu ertragen - Toleranz kommt ja von ertragen. Das Handgepäck dafür liefert das Theater, da die Kirche tatsächlich für viele nicht mehr bindend ist.

Nur katholische Skinheads schrecken vor Mord zurück

intimacy-art: Andererseits bremst heute aber das Wort "political correctness" nicht nur in der Sprache, sondern auch im Alltag die Emotionen ein. Die Leute müssen sich auch im Berufsleben mehr als nur gesittet benehmen. Emotionale Ausbrüche gelten gleich als Zeichen von Verrücktheit oder dass man ein Problem mit sich selbst hat. Wobei ich jetzt aber nicht von allen Schichten sprechen kann.
SASSE: Ich wollte gerade fragen: Wo verkehren Sie?
intimacy-art: Tja, Sie als Schauspieler dürfen sich Ausbrüche sicher leisten.
ZIMMERMANN: Ich lebe zwar noch nicht so lange auf dieser Welt, aber kucke seit ich da bin, relativ wachsam zu. Ich hab das Gefühl, es ist genau umgekehrt: die Welt wird immer sexualisierter.
intimacy-art: Ja, aber nur in den Medien. Ausgelebt wird das in Wirklichkeit weniger.
ZIMMERMANN: Dann setzen Sie sich doch mal in die U-Bahn, da rennen Filme ab. Das hätte ich mir in den 60-er Jahren ohne meine Eltern nicht anschauen dürfen. Es wird immer gewaltbereiter, sogar die Sprache der halbwegs gesitteten Anzug- und KostümträgerInnen ufert aus. In eine Form von Rabiatheit und Direktheit, die für mich zunächst zwar nur ein Anzeichen für Irritation ist, ungeschützt mit den eigenen Emotionen zu kämpfen. Dazu kommt aber sicher, dass durch die allgegenwärtige Durchpsychologisierung mit Tante-Antje-Spalten in Illustrierten eine Art Ersatz-Sigmund-Freud den Leuten permanent den Verdacht aufdrängt, dass das, was sie sagen, eigentlich ganz etwas anderes bedeute. Und da kollidieren die Jugendlichen einfach mit einer sehr brachialen Form, die Dinge beim Namen zu nennen. Das heutige Wort "geil" hieß zu meiner Zeit "klasse". Ich wäre nie auf die Idee gekommen, etwas, das mich besonders berührte, geil zu nennen.
intimacy-art: Ich glaube aber, dass sich das nur auf der Sprachebene spielerisch bewegt. Die Jungen haben ihre Musikvideos, wo "fuck" und Frauendiskriminierung vor kommt, was aber wieder von der schwarzen Kultur aus Amerika kommt ...
ZIMMERMANN: Dafür müssen Sie aber doch nicht den Fernseher einschalten.
intimacy-art: Doch, ich denke, dass das im Allgemeinen nur die Oberfläche ist, die also nicht in Handlungsgewalt im Leben ausartet, ebenso wie das keine Sexualität ist, die man auch im Alltag hat. Das ist eine virtuelle Brutalität, Gewalt und Sexualität, die mit dem Leben kaum zu tun hat.
ZIMMERMANN: Das kann aber nicht sein. Dann würden sich die Gerichte nicht mit so merkwürdigen Delikten wie Mißhandlungen in der Ehe oder an Kindern beschäftigen.
intimacy-art: Das wird doch lediglich erst heute aufgedeckt, hat im Untergrund aber schon immer stattgefunden ...
ZIMMERMANN: Da bin ich mir nicht sicher, schon weil ich verschiedenste Gruppierungen erlebt habe und zwar wieder in Zusammenhang mit der Kirche. Einmal bei einem Low-Budget-Festival im Stadttheater Freiburg Anfang der 90-er Jahre, wo ich eine Gruppe aus Polen eingeladen hatte, die ein Theaterdirektor in Krakau gegründet hatte. Und zwar nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs, wo sich polnische Jugendliche brutal darauf kapriziert hatten, türkische Fahrer in westdeutschen LKWs zu überfallen, um an Zigarettenladungen und Geld zu kommen. Denn im postkommunistischen, streng katholischen Polen hatte sich eine militant-fremdenfeindliche Skinheads-Szene entwickelt. An einem Versammlungsplatz bekämpften sie zu fünzigst täglich abends um sechs die fünf Punks, die Krakau zu bieten hatte, also eine Stunde bevor das Stadtheater Krakau öffnete. Einmal ging der Theaterdirektor auf diesen Platz raus und sagte: "So, Ihr könnt das jetzt noch zwei Jahre so weiter machen", er fände es aber relativ fad, sie sollten doch das, was sie da zu verhandeln hätten, bei ihm im Theater machen. Und so führte er dann mit diesen Laien, halb Skins, halb Punks, Romeo und Julia auf. Beim Festival kam es dann zu einer Debatte - sehr politisch korrekt, denn Freiburg liegt im äußersten Südwesten der Bundesrepublik, nah an Frankreich und der Schweiz, ist also ein altliberales Pflaster seit 150 Jahren, wo die
Friedensbewegung stark vertreten ist. Und da fragten die politisch korrekten Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Mütter diese Jungs und Mädels: "Wie kommt denn das, dass sich so nette Leute, die so nett Theater spielen können, zwischen 6 und 7 die Rüben einhauen und außerdem Türken erschlagen wollen?" Der größte Haudegen aus dieser Truppe wurde von einer jungen Frau gefragt, ob er gegen Ausländer sei. Ja, sei er. Ob er finde, dass die in Polen nix zu suchen hätten. Ja, finde er. Und es endete mit der Frage, ob er auch jemanden umbringen würde? Darauf sagte er ganz erschrocken: "Nein!" Und sie: "Wieso?" Und er: "Ich bin doch katholisch." - Und da sage ich nun: Das funktioniert halt bei uns nicht mehr. Ein Berliner würde nicht sagen: "Ich bringe keinen Türken um, weil ich katholisch bin."

Hitler ist weder Held, noch Anti-Held. Aus. Punkt.


intimacy-art: Das gibt es auch bei den Schwarzen-Vierteln in Amerika. Solche Konflikte zwischen den Kulturen, zwischen arm und reich und unter Arbeitslosigkeit, sind nicht neu und auf unsere Jugend begrenzt. Schon im zweiten Weltkrieg gab es sie, als man die Juden angegriffen hat.
ZIMMERMANN: Und da kann man sich aber auch gleich in Sachen Heldentum zurecht legen, dass man nicht nur ein Held ist, wenn man unter Lebensgefahr einen Juden versteckt, sondern wenn man im Kleinen - wurscht ob im Theater oder auf der Straße - als Zuschauer von seinem Wahrnehmungsinstrument Gebrauch macht: Ich beobachte hier in Wien zum Beispiel viele kleine Aggressivitäten, an denen Leute vorbei gehen, wo geschubst wird oder sich zwei prügeln. Es geht also nicht darum, ob ich einen starken Mann daran hindere, wenn er seine Frau prügelt. Sondern dass ich registriere: Junge, ich sehe, dass du deine Frau prügelst, und wenn man mich fragt, wie du aussiehst, kann ich dich beschreiben. Das hilft manchmal schon.
intimacy-art: Ich würde trotzdem gerne noch mal zurück zum Zweiten Weltkrieg kommen, und zu den Figuren Hitler und Tura. Wenn man sagt: beide sind auf Arten-für-sich Anti-Helden, könnte dann Tura trotz seiner Lächerlichkeit verglichen mit "Hitler" irgendwann doch als wahrer Held durchgehen?
ZIMMERMANN: Haben Sie die Frage verstanden?
SASSE: Nein.
intimacy-art: Sie haben gesagt, dass der Tura kein Held ist, weil er nur aus Eitelkeit seine Frau zurück haben will. Wie heldenhaft verhält er sich dennoch zum heutigen Anti-Helden Hitler?
ZIMMRMANN: Moment mal, jetzt kommen die Kategorien aber schwer ins Rutschen. Hitler hat zu keiner Zeit etwas Heldisches gehabt. Auch nicht aus damaliger Sicht.
SASSE: Entschuldigung, dann wäre der Saddam Hussein für Sie auch ein Held?
intimacy-art: Nein, für mich persönlich ist Hitler auch kein Held ... Aber für viele Leute seiner Zeit war er es.
SASSE: Es ist unheimlich schwer, so eine Diskussion zu führen, weil wir, obwohl wir dieselbe Sprache sprechen, nicht dieselbe Sprache sprechen. Da wird es sehr schwer, weil die Begrifflichkeiten, die ich verwende, für Sie und Frau Zimmermann mitunter etwas anderes bedeuten. Für meinen Geschmack wird auch der Begriff "political correctness" zu oft verwendet, weil dahinter enorm viel versteckt wird. - Der Hitler hat für sich selbst prinzipiell nichts riskiert, er hat nur sein Volk riskiert ... und in den Häfen ging er ja auch nicht als Held, sondern als Arbeitsloser ...
ZIMMERMANN: Wobei nichts gegen Arbeitslose zu sagen ist.
SASSE: Nein, aber da hat er auch nur Müll gebaut. Denn er ging ja nicht aus Überzeugung.
intimacy-art: Das habe ich aber nicht gemeint. Wir haben gesagt, jemand erscheint deshalb als Held, weil ihn die Außenstehenden dazu machen. In der Nazi-Zeit war er für viele, die ihn gewählt haben - selbst wenn man heute sagt, die Zahlen waren zum Teil falsch - ein Held. In der heutigen Zeit ist er ein absoluter Anti-Held.
ZIMMERMANN: Entschuldigung, ich diskutiere nicht weiter, wenn Sie da den Begriff Anti-Held nicht wegtun. Das hat überhaupt nichts mit Hitler zu tun. Das war ein korrupter, schrecklicher Diktator, Punkt, aus, der die Macht, die er hatte - wie er sie bekommen hat, ist vollkommen wurscht - mißbraucht und einen halben Kontinent in Sack und Asche gelegt und 6 Mio. Leute ermordet hat. Der ist weder mit dem Wort Held, noch Anti-Held zu bezeichnen. Aus. Punkt.
intimacy-art: Aha. Was ist dann für Sie ein Anti-Held?
ZIMMERMANN: Ein Anti-Held ist von mir aus das Gegenteil von einem Helden. Aber selbst das ist Herr Hitler nicht. Er ist einfach ein mächtiger Diktator gewesen. - Man kann lange darüber streiten, wie er an die Macht gekommen ist, die er dann, wie erwartet, mißbraucht hat - aber das ist jenseits ... Das ist für mich kein ästhetisches Phänomen, wenn Sie es so wissen wollen. Dass Leute den verehrt haben - sozusagen mit ihren letztgültigen Untergangsphantasien eine Liaison eingegangen sind - das kann ja sein. Nur rutschen für mich da die politischen Kategorien auseinander.
intimacy-art: Ja, vielleicht habe ich eine größere Distanz zu diesem Menschen...

Die Metamorphose des Helden im Laufe der Generationen


ZIMMERMANN: Sie dürfen doch eins nicht vergessen: Das Phänomen, von dem das Tura-Stück handelt, bezieht sich doch noch auf vor all das Wissen, das wir als Nachgeborene heute haben, darüber, wie systematisch der Nationalsozialismus in seiner Vernichtungsmechanik funktioniert hat.
SASSE: Das sehe ich nicht so, aber bitte. Das Furchtbare am Tura-Stück liegt für mich in der Wiederholbarkeit.
ZIMMERMANN: Das stimmt.
SASSE: Das Entscheidende ist, dass so ein Wahnsinn nur durch einen nächsten auszutreiben ist. Wie wenn man sagt: Das gibt es nicht. Und am nächsten Tag schlägt man die Zeitung auf, und weiß, man hat ein kleines Kabinettstückchen von dem gesehen, was andauernd stattfindet. Und ich glaube, der Erfolg der Erzählweise liegt nicht so sehr in der Dämonie, sondern in der Groteske. Es fängt mit einem Gestapo-Laden an, wo sich einer, gar nicht schauspielerisch oder schlecht gespielt, der Macht bewußt ist. Diesen Gestapo-Burschen spiele ich so menschlich und gefährlich, so eins zu eins als möglich, um dann als Schauspieler dem Zuschauer, der vorneweg draufliegt, sagen zu können: "Das da oben ist doch ziemlicher Schitt, was die machen."
intimacy-art: Mir taugt als jüngere Generation, die wir auf der Uni sehr viele Dokus über Zeitzeugen gemacht haben, vor allem diese Groteske. Denn auch wir haben den Hitler gerne verarscht, indem wir ihn mit ganz arger Techno- und Hiphop-Musik unterlegt haben, wenn er in dieser bekannten Doku-Sequenz auf seinem Wagen stehend in die jubelnde Menge einfährt. Das meinte ich mit der Distanz zwischen den Generationen gegenüber dieser Historiengestalt. Es gab aber schon damals einen Professor, der diese Version als geschmacklos abgelehnt hat. Doch: Wir Jungen gehen mit dem viel ungenierter um, so als wäre er eine objekthafte Comic-Gestalt, weil wir denken, dass ihm das gehört. Und das habe ich nun in Ihren Programmen wieder entdeckt und mich bestätigt gefühlt. So etwa auch durch Neville Tranters "Schicklgruber alias Adolf Hitler". Aber ein Stück zeigt, dass auch sich direkt im Krieg Befindende abhärten, also sich zu distanzieren versuchen. In "The Notebook / The Proof" wollen die Brüder Lucas und Klaus ihre Gefühle verlernen, um sich nur noch in Tatsachen zu üben. Inwiefern machen Kriegsitutationen gefühlskälter?
ZIMMERMANN: Kann ich nicht beurteilen, weil ich nie vom Krieg berührt wurde. Ich glaube aber, dass man mit den widerstreitenden Gefühlen in den Menschen, die sich immer zwischen positiv und negativ hin und her bewegen, in zivilen Umständen friedlicher umgehen lernt als im Krieg. Was das mit jemandem macht, da kann ich mich nur auf die Erzählungen meiner Eltern verlassen, die ich aber naturgemäß vor dem Krieg nicht kennen lernen konnte. Ich weiß es nicht.
intimacy-art: Und da ich Sie ja als lebenden Helden ausgewählt habe ...
SASSE: Ich hätte lieber, dass man sagt: Das war ein ganz anständiger Bursch und interessanter Theatermann. Als Helden sehe ich mich nicht. Ich würde es aber als Heldentat empfinden, am Gänsehäufel auf den Schrebergärten alle Gartenzwerge zu entfernen.
intimacy-art (lacht): Nun, dann danke ich Ihnen also für diesen absurden Schluß.

(Interview-Auszug vom 7.5.2003, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Friday, April 27, 2007

Marie Zimmermann zu Heribert Sasse 1: "Helden entscheiden sich für den Tod, auch wenn sie wissen, ohnehin sterben zu müssen"


Marie Zimmermann (Foto © Michael Dürr, Faksimile)


Am 11. Mai werden unter großem Tamtam am Wiener Rathausplatz die bis 19. Juni 2007 dauernden Wiener Festwochen eröffnet. Für den Programmbereich "Schauspiel" war die weltpolitisch interssierte MARIE ZIMMERMANN verantwortlich, die sich vor wenigen Tagen das Leben genommen hat. Der Schock sitzt tief, auch bei Festivalintendant Luc Bondy, der bei der Programmpräsentation am 26.4. bedauerte: "Marie Zimmermann wäre jetzt eigentlich neben mir gesessen, wir hätten uns gegenseitig gelobt und gedankt. Ich hätte ihr gratuliert, zu ihrer großen künftigen Aufgabe bei der Ruhr-Triennale." Ergänzend mit vorwurfsvollem Unterton: "Der Abgang hätte nicht so abrupt sein dürfen. Wir hatten ja schon künftige gemeinsame Projekte ausgeheckt... Ich wußte von ihrer schweren Gemütskrankheit, empfand sie im Frühling aber stets als fröhlicher. Trotz Erschöpfung nach all dem Reisen war sie immer voller Lampenfieber zum Festivalstart... Ihre Seelenschwere ist für mich schwer zu verstehen, ganz nach dem von Marie mir immer wieder nahegelegten Arthur Schnitzler: "Die Seele ist ein weites Land."
- Schöne, hochinteressante Stücke und Musikwerke stehen heuer zur Aufführung, doch vieles erinnert nun auch konkret an die manisch-depressive Krankheit von Marie Zimmermann. Dass sie bereits im Mai 2003 zumindest theoretisch - existentialistische Selbstmord-Überlegungen führte, lässt sich im Nachhinein dem Gespräch mit Schauspieler-Regisseur HERIBERT SASSE, geführt von ELFI OBERHUBER, zum damals von ihr selbst programmierten Festivalthema "Neue Helden" entnehmen.


Kurzprofil MARIE ZIMMERMANN, als jüngstes Kind einer katholischen Grossfamilie am 27.12.1955 in Aachen (BRD, Sternbild Steinbock) geboren, gestorben am 18.4.2007 in Hamburg. Studierte in Aachen Germanistik, Philosophie und Soziologie. Zunächst freie Journalistin & Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft / Deutsch. ´85 PR & Dramaturgie im Geschäftsführerstatus bei ihrem Ehemann Friedrich Schirmer (bis ´89 Landesbühne Esslingen, 89-´93 Städt. Bühnen Freiburg, ´93-´99 Staatstheater Stuttgart). ´97-´00 künstl. Direktorin des internationalen Festivals Theaterforum Braunschweig/Hannover. ´98 Jurorin im Wiener Festwochen-Regiewettbewerb, und von 2001 bis Juni 2007 Schauspiel-Direktorin. Nachfolgerin ist Stefanie Carp. Besonders stolz war sie auf ihr Jahr als Intendantin des Theaters der Welt in Stuttgart, für das sie sich 2005 in Wien karenzieren ließ. Wäre ab 2008 Künstlerische Leiterin der Ruhr-Triennale gewesen. Mit einem Gespür für soziale Gerechtigkeit und einer Vorliebe für Diskussionen, war Zimmermann in hohem Maß "journalistische Theaterfrau". Sie brachte politisch relevante und neue Theaterformen der Weltränder nach Wien. Genreübergreifend und jugendinteressiert liebte sie qualitativ hochstehendes Performance- und Figuren-Theater.

Einen persönlichen Abschied von e.o. gibt es auf www.intimacy-art.com, in aKtuell / REALNEWS / WATCHER; Archive April 2007, scroll down! zu Titel: ABSCHIED VON DER TATSÄCHLICH WIDERSPRÜCHLICHEN MARIE ZIMMERMANN


Vom "(Irr)glauben" des Selbstmörders als Held

intimacy-art: Was ist für Sie beide persönlich ein Held?
MARIE ZIMMERMANN: Jesus, aus´m Kaltstart philosophisch werden?
HERIBERT SASSE: Jemand, der nein sagt, auch wenn er weiss, dass es ihn sein Leben kostet.
intimacy-art: Er muss also bis an die Grenzen seines Lebens gehen?
ZIMMERMANN: "Nur" an die Grenzen - glaub ich nicht. Das sind Menschen, die sich in jeder Situation - sei sie existentiell bedrängend oder nicht - ihre Freiheit bewahren. Die Helden der letzten fünf Jahre sind für mich als Vielfliegerin jene, die am 11. September die Maschine in Pittsburgh zum Absturz brachten. Sie nahmen sich die Freiheit, sich für den Tod zu entscheiden, obwohl sie wußten, dass sie ohnehin sterben müssen. Ich finde es aber skandalös, dass das nur mit einer Fußnote bemerkt wurde. Erst seit diesem Ereignis weiß ich: "Ich bin nie wehrlos, sondern entscheide mich, meine Kräfte nicht zu gebrauchen." Helden sind entscheidungsfreudige Menschen mit einem unmittelbaren, intuitiven Verhältnis zu ihrer Freiheit, die den Unfreiheits-Satz, "hier steh ich nun und kann nicht anders" für den dümmsten der deutschen Sprache halten. Sie können immer, müssen aber nie.
intimacy-art: Wenn Sie Ihre Laufbahn, Ihr Leben betrachten - hatten Sie je das Gefühl: "da habe ich mich als Held gefühlt"?
ZIMMERMANN: Ne. Ich bin Jahrgang 1955 - in Deutschland geboren und aufgewachsen - und hab dort von allen Katastrophen und Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts nur profitiert. Ich bin daher nie in die Situation gekommen, mich besonders heldenhaft verhalten zu müssen.
intimacy-art: Und Heribert Sasse? Aber nicht gehemmt sein!
SASSE: Ich bin nicht gehemmt, wie kommen Sie darauf? Mein Beruf ist es, nicht gehemmt zu sein.
ZIMMERMANN (lacht)
SASSE: Ich kam leider oder Gott-sei-dank nie in die Situation, in einem Flugzeug zu sitzen und so etwas zu entscheiden. Ich weiß offen gesagt auch nicht, ob ich "dieser Held" dann wäre. Man wünscht sich das immer im Nachhinein, oder wenn man darüber liest. Aber ich war mal nah dran: Meine Frau war im achten Monat schwanger, und die Berliner Regierung verlangte von mir, das Politikerfestival 87/88 für Helmut Kohl auszurichten. Und ich sagte: "Nein, das mache ich nicht." Ich habe mich also unter Androhung der fristlosen Entlassung dagegen entschieden. Es ist dann nicht so weit gekommen, wobei Kohl noch ganz witzig fragte: "Wieso machen Sie das nicht?" Und ich: "Mir fällt nichts ein." - Dem Minetti konnte man das nicht zumuten, und mir auch nicht: sich hin zu stellen und ein Gedicht aufzusagen.

Im Moment der Entscheidung ohne Heldenbild

ZIMMERMANN: Während so einer instinktiven Entscheidung, wird niemand ein Gefühl dafür bekommen, gerade ein Held zu sein. Der Held ist ein Begriff aus dem Theater und dem Kriegswesen. Jemand wird im Nachhinein ausgezeichnet und im Theater sofort akklamiert, wenn er seine Rolle erfüllt. Wonach Sie fragen, ist das Gefühl, einmal mutig und furchtlos gewesen zu sein. Und da muß ich sagen: Ich bin von einer - bis zurück zu den Großeltern - für ihre Möglichkeiten und ihre Zeit immer sehr furchtlosen Familie erzogen worden. Das hat sich also übertragen. Ich mußte vor den Personen, die mir begegneten, nie einknicken und hatte deshalb auch nie das Gefühl, ein Held zu sein. Sondern: ich entscheide mich halt im Rahmen meiner Entscheidungsmöglichkeiten so. Ob man es nun plausibel findet oder nicht. In dem Moment der Entscheidung empfindet man keine Bedrückung. Man schreitet ja nicht wie ein Hollywood-Star durch sein eigenes Leben.
SASSE: Richtig, und man hat die Weisheit auch nicht mit dem Löffel gefressen. Wichtig ist nur, dass man im Moment zu seiner Entscheidung steht, auch wenn sie für andere oder später falsch sein kann. Schlimm finde ich nur, wenn man im Grunde genau weiß, dass die Entscheidung eigentlich falsch ist und man sie trotzdem fällt. Das würde ich Anti-Heldentum nennen.
intimacy-art: Wenn man sich selbst also untreu wird?
SASSE: Ja.
intimacy-art: Ich hab nun für mich selbst den Held in der Kunstszene so definiert, dass das jemand ist, der seine Sache unermüdlich verfolgt - innovativ oder bürgerlich - auch wenn ihn mächtige Leute daran hindern wollen. Das wäre für mich also schon im Alltag ein Held.
ZIMMERMANN: Dagegen würde ich gerne polemisieren. Ich glaube, dass der Begriff des Helden - so wie Sie ihn da skizzieren - für die Zuschauer - egal ob im Alltagsleben, Zuschauerraum, Kino oder vor dem Fernseher - eine prima Ausrede für die eigene Passivität ist, sich immer fragend, "was hat der, was ich nicht habe?", und das ist meistens viel. Angefangen vom Aussehen, den finanziellen Möglichkeiten bis zum kreativen Bereich. Ein Künstler, der das tut, was er machen muß - ob er dafür öffentliches Geld, Zuspruch kriegt oder nicht - ist erst mal nichts weiter als konsequent. Denn er tut das, was er tun kann, mit Leidenschaft, und nicht, weil er es um jeden Preis verwerten will. Das macht ihn aber noch nicht zum Helden. Sondern den findet man im Verborgenen, nämlich da, wo die Leute nicht hinschauen. - Beim Wort unermüdlich kriege ich immer gleich das Gefühl von einer permanenten Anstrengung, die unmenschlich ist. Wir wissen doch gar nicht, wann wir im Laufe eines Tages oder des Lebens vor eine Situation gestellt werden, in der wir, und nur wir, entscheiden müssen und können, wie´s geht. Und wir wissen auch vor der Entscheidung nicht, ob sie richtig ist. Das hat nichts mit Unermüdlichkeit zu tun, sondern mit Wachheit. Dass man nicht ständig denkt, man müßte woanders sein, woanders besetzt sein - ...
SASSE (lacht)
ZIMMERMANN: ... möglicherweise als Held. Sondern da, wo man ist, zu begreifen: das ist der schmale Grat an Realität mit den Menschen, die ich liebe, mit denen ich zusammen sein muß, weil sie meine Berufskollegen sind, wo ich mein Leben gestalten muß. Da findet man, glaube ich, viel mehr von dieser Entschlossenheit, die kein Begriff von sich selbst haben muß. Also, ich glaube nicht, dass die Helden von Troja gewußt haben, dass irgendein komischer Kauz namens Homer ihren Mist aufschreibt, sodass man sich das in 2 1/2 tausend Jahren immer noch erzählen wird. Sie zogen ihrem Alltgagsgeschäft nachgehend, einfach in den Krieg, unsicher, was hinter ihnen die zurückgebliebenen Frauen treiben. "Held sein" ist also etwas für Leute, die zugucken. Freiheit ist es für die, die sie sich nehmen. Wenn man jemandem zuschaut, der sich in einer aussichtslosen, verzwickten oder schwierigen Situation eine Freiheit nimmt, von der wir alle gar keinen Begriff haben, dass es die gibt, ist man erstaunt, ...
SASSE: ... dass der das macht.
ZIMMERMANN: Und um es von sich selbst fernhalten zu können, und sich am nächsten Morgen nicht selbst an dieser Erfahrung zu messen, sagt man halt, "das ist ein Held". Es geht um konkret das, was Heribert Sasse am Anfang gesagt hat: Ums Ja und Nein sagen. Und da man in dieser Gesellschaft eher Ja sagt, wenn man Nein meint und umgekehrt, betrachten wir die Leute, die Klartext reden, als die privilegierten Helden, die wir dann verehren. Aber leider meistens ohne Konsequenzen für uns selbst.

Der Held im Alltag

intimacy-art: Sie sagen also, dass das eigentlich nur der Außenstehende beurteilen kann, trotzdem möchte ich Heribert Sasse fragen - denn deshalb habe ich Sie ausgesucht - ...
SASSE: Aber ich kann die Rolle nicht spielen, die Sie von mir wollen.
intimacy-art: Nein, das müssen Sie auch nicht.
SASSE: Das ist für mich gleich wie im Beruf: die Schwierigkeiten fangen an, wenn jemand anruft und sagt, "ich stelle Sie mir als Held vor" und ich mir mich in dieser Rolle aber als gescheiterte Figur vorstelle, wie beispielsweise beim Josef Tura in Noch ist Polen nicht verloren, wo der Schotti (Regisseur Michael Schottenberg) und ich lange diskutierten, und ich der Meinung war, die ganze politische Schiene sei für so jemanden überhaupt uninteressant. So ein naiver Theaterakrobat der Provinz macht sich nur aus einem Grund vor der SS zum Affen, was ja wirklich lebensgefährlich ist - nämlich, um mit seiner Geschichte mehr auftrumpfen zu können als der Fliegerleutnant und damit seine Frau zurück zu bekommen ...
ZIMMERMANN: ... und zwar als Schauspieler.
SASSE: Richtig. Als toller Bursch, um zu sagen: "So, und jetzt kannst du den Flieger an die Wand picken." Für die anderen mag er ein Held sein, für sich ist er als Schauspieler das erste und wahrscheinlich letzte Mal in seinem Leben richtig gut gewesen. Darum geht es ihm in diesem Moment.
intimacy-art: Ich meinte aber Sie als Person und nicht den Tura.
SASSE: Also, wenn ich für Sie ein Held bin, ist das Ihre Sache, wobei ich Sie nicht stören will.
ZIMMERMANN (lacht)
intimacy-art: Ich darf es begründen: Wenn ich Ihre Biographie lese und erkenne, wie Sie sich in Berlin mithilfe von Journalisten für Ihr Theater einsetzten und gegen Leute - Entscheidungsträger, von denen ihre Existenz abhängt - vorgehen, sodass ich dann empfinde, das ist unfair Ihnen gegenüber ...
SASSE: Aber das macht doch jeder Mensch.
intimacy-art: In dem Ausmaß nicht.
SASSE: Nun, das eigene Schicksal ist ja immer das Furchtbarste.
ZIMMERMANN (lacht): Das stimmt.
intimacy-art: Aber Sie sind als Mensch doch nicht wie der Tura, oder?
SASSE: Nein, ganz sicher nicht. Dann hätte ich wahrscheinlich noch ein Theater ...
intimacy-art: Na, sehen Sie.
SASSE: Aber man muß etwas ganz klar sagen: Ich weiß nicht, welches Theater Sie anspielen. Ich habe ja in Berlin drei geleitet.
intimacy-art: Beim Letzten kam es zu den Diskussionen.
SASSE: Das Letzte, na gut. Eine ganz einfache Geschichte: Die Berliner Schloßpark-Geschichte geht zurück aufs Schiller Theater. Beim Hauptausschuß für Finanzen 1989, wo wir Staatstheater-Intendanten alle zugegen waren, - geleitet vom jungen Herrn Wowereit, weil der Ausschußvorsitzende krank war - sagte derselbe zu Prof. Götz Friedrich, dem Leiter der Oper: "Das Theater vom Sasse ist scheiße, und im Übrigen hat er Etatüberzüge", und der Friedrich sagte, "er kann ja innerhalb der Kameralistik ausgleichen!". Darauf antwortet Wowereit dem Friedrich: "Sie sind ein Dilletant, dem man den Dienstwagen streichen sollte, arbeiten Sie endlich mal was!" Da stehe ich auf, nehme meine Tasche, um zu gehen, und der Friedrich schreit, sodass fast die Fenster rausfliegen: "Was ist, Herr Sasse? Wir wollten Sie gerade wegen der aktuell guten Auslastung loben." Sag ich, "ja, aber ich bleib hier nicht. Ich habe das Gefühl, ich bin hier im Volksgerichtshof. Und ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, Herr Wowereit, Sie wissen ja, dass ich Schauspiel-Intendant bin, falls ich einmal in die Verlegenheit komme, den Dr. Freisler zu besetzen, werde ich Sie anrufen", und gehe raus. Damit war die Todfeindschaft eingeläutet. Und als ich dann am Schloßpark-Theater anfing, war Wowereit in der Regierung. Mir gegenüber sitzend sagte er: "Von mir nicht eine Mark, Herr Sasse, ich finde das Schloßpark-Theater scheiße. Für mich gibt es nur den Castorf." Ich sagte: "Das ist depppert. Den Castorf gibt es für uns alle. Der hat sein Theater im Zentrum, wo er hingehört. Am Schloßpark-Theater verkehrt nicht sein Klientel." So war es. Und als er dann an der Macht war, führte er mithilfe einer von mir gefeuerten Dramaturgin eine Evaluierung durch, wo sie es mir dann gezeigt "haben". Und je weniger Geld du hast, desto politisch schwächer bist du. Dazu kommt die Topographie, wobei das Schloßparktheater im veränderten Berlin tatsächlich in die Peripherie gerutscht war. Dass wir dort tolle Sachen machten, haben die wenigsten gesehen, ebenso wie die Presse nicht, die ja nur nachläuft, wo hinter vermeintlichem Erfolg auch für sie das Geschäft zu stecken scheint. Und ich hänge da also jetzt mit einer Million DM drinnen, die ich aufgenommen habe. Das kann mich meine Existenz kosten. Insofern wäre ich ein Held. Wahrscheinlich bin ich aber doch eher ein Idiot.

Wodurch Theater heute noch relevant wird

ZIMMERMANN: So etwas spürt man in Wien noch nicht so sehr, weil das zumindest an der Oberfläche, eine halbwegs intakte, bürgerliche Stadt ist. Ich glaube aber generell, dass sich die großen Industrienationen in Mitteleuropa in den nächsten zehn Jahren bei immer kleineren Zentren an immer breitere Ränder gewöhnen werden müssen. D.h., Randfiguren wie alte Menschen und unangenehme Hooligans sind Phänomene, mit denen wir uns beschäftigen müssen, und die als "Antihelden" somit zum Mittelpunkt unserer Off-Theater-Schiene wurden. Wien, das sich ja gerne fürs Zentrum hält, soll sich nicht nur im sozialtherapheutischen Sinn damit konfrontieren, sondern um festzustellen: "Das ist so." Das Theater hilft also sehr früh, über Dinge nachzudenken, die man eigentlich noch nicht auszusprechen bereit ist. So wie in den 60er Jahren schon Rolf Hochhuth gleich einer Spiegel-Redaktion über die Rolle der katholischen Kirche in der Nazizeit zu denken gab. Peter Brook brachte das auf den interessanten Gedanken: "Sie müssen doch glauben, dass die Tagesschau die Tagesschau, und der Spielfilm der Spielfilm ist. Es könnte aber auch umgekehrt sein: dass der Spielfilm (Anm. und damit das Theater) die Tagesschau ist."
intimacy-art: Sind dagegen die Inhalte, sprich Probleme, in den westlichen Breiten so irrelevant bzw. subtil geworden, dass sie nur noch durch die besondere und neue Form zum kongenialen Ausdruck finden?
ZIMMERMANN: Es musste in den letzten 50 Jahren sicher in Zentral- und Mitteleuropa niemand mehr seine Heimat aus politischen Gründen verlassen, keine Generationen von jungen Männern wurden mehr in den Krieg geschickt und verheizt, keine Minderheiten massenweise umgebracht. D.h., wir haben zum ersten Mal einen ganz normalen Generationswechsel. Junge Leute entscheiden sich mit 14, 15 in einem guten Bildungssystem zielstrebig fürs Theater und entdecken für sich Formen, die vielleicht Generationen vor ihnen schon mal ganz anders durchdekliniert haben, wirklich neu ist dagegen kaum etwas. Das Theater ist überhaupt der einzige Ort, an dem neu oder alt, jung oder alt, keine Rolle spielt. Es zählt nur, wie plausibel, präzise, mit wieviel Leidenschaft jemand das, was ihn bewegt, auf der Bühne darstellen kann, sodass sich das andere für Geld anschauen wollen. Das Geheimnis des Theaters ist heute nicht, dass es etwas erzählt, was wir nicht schon wüßten, sondern die immer neue Erfahrung bei einem alten Hut wie Romeo und Julia dank einer unverwechselbaren eigenen künstlerischen Energie des Umsetzenden.
SASSE: Bei so einem alten Hut schwingen nur sowohl beim Machenden als auch beim Zuseher Erinnerungen mit. Deshalb muss man es für die Zeit produzieren und zugleich versuchen, die Ecke von dem Jugendlichen zu kriegen, der normalerweise Shakespeare meidet. Andererseits ist viel an Gegenständlichem, wogegen man ist, weg gefallen und nichts ist dazu gekommen. Und da auch die Kirchen dem Menschen nichts mehr sagen können, sehe ich es als Chance des Theaters, jene zu bespielen. - Damit die Leute wissen, warum sie überhaupt noch in die Kirche gehen, und im gelungen Fall eine halbe Stunde diskutieren.
ZIMMERMANN: Das schließt an Ihrer anfänglichen Definition vom Helden an. Der Unterschied ist nur: Im Theater muß ich nicht glauben. Das ist eine absolut undogmatische Kunst.
SASSE: Doch, das müssen Sie! ...




Heribert Sasse (Foto © Michael Dürr, Faksimile)





Lesen Sie demnächst in Teil 2 auf dieser Site: die hitzige Debatte über den Glauben, Hitler als "Helden" und die unterschiedliche Lebens- und Sprachweise der
Generationen

(Interview-Auszug vom 7.5.2003, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Friday, March 16, 2007

Kyle Eastwood zu Paul Albert Leitner, 2: "Ich bin kein Jazz-Snob, wahrscheinlich auch kein Asket"


Kyle Eastwood (Foto © Gai Jeger)


2. Teil des Gesprächs von ELFI OBERHUBER mit Fotokünstler PAUL ALBERT LEITNER und Jazz-Bandleader KYLE EASTWOOD. Auf das asketische Meditieren folgt das sinnliche Reisen. Mit direkter Auswirkung auf die Kunst. Für Einführung und Teil 1 scroll down.

Kurzprofil KYLE EASTWOOD, geb. 19.5.1968 in Kalifornien/USA (Sternbild Stier). Zweites Kind von Hollywoodstar Clint Eastwood und dessen erster Ehefrau Maggie Johnson. Der Vater, Jazzfan und Hobbypianst, bringt den Sohn zum Jazz und arbeitet mit ihm als Filmkomponist (Mystic River, Million Dollar Baby -Oscar-Abräumer 2005, Letters from Jima - Oscar 2007 u.a. für Ton-Schnitt, CD-Veröffentlichung Februar 2007). Kyle, kurz Schauspieler, lernt Bass autodidaktisch. Macht Mainstream-, Contemporary-, Hard Bop-, Cool-, Funky-Jazz. Zunächst in vielen Bands. Heute Leader einer wahrlich sexy "Jazz-Boy-Group". Erste CD 1998 From There to Here (Sony) mit Miles-Davis-Gil-Evans-Einfluß, zweite CD 2005 Paris Blue, jüngste CD Ende 2006 Now. Seit Paris Blue arbeitet Elektronikinstrumentalist und Kompositeur Michael Stevens eng mit Kyle Eastwood zusammen. Now (Record Label / Rendezvous Entertainment) ist ein grenzüberschreitender Genremix aus Postmodernem Jazz, Pop und Club (mit einer The Police-Song-Interpretation). Mit Gesang und Songwriting von Jamie Cullums Bruder, Ben Cullum, sowie der Neuen Garde der britischen Underground-Jazzbläserszene Graeme Flowers und Dave O´Higgins aus London, wo Kyle Eastwood lebt.

- In welcher Verbindung Kyle Eastwood zu Jazzpianist - und Bandleader Jon Regen (in www.intimacy-art.com / artists / talks / vision) und dem Underground- Club- Jazz- Genre steht, erfährt man über intimacy: art (www.intimacy-art.com) in REALNEWS / WATCHER (bzw. TIPPS) / Archives: March. Titel: TANZEN AB 30: BEI PEE WEE ELLIS, PRINCE, KYLE EASTWOOD & JON REGEN


Fremde Städte und ein Kind - zwei Inspirationen

Foto © Paul Albert Leitner: Brno, 1997

intimacy-art: Die Inspriation für Ihre CD "Paris Blue" holten Sie sich nun auf Reisen. Wie Asketen, die sich als Pilger beim Reisen in spiritueller Tiefe selbst finden, um ihren Standpunkt gegenüber dem Weltgeschehen zu reflektieren. Inwiefern wurde Ihre Musikwelt nun von den Städten Marakesh, Solferino, Paris beeinflußt?
KYLE EASTWOOD:
Geschrieben habe ich die meisten Nummern in Paris, und den Titel Marrakesh tatsächlich nach einem Trip in Marokko.
Ich war dort vier, fünf Mal. Beim ersten Gang durch den Markt hörte ich diese Musik, wo die Einheimischen außerhalb des Platzes spielen. Später stellte ich mich immer dorthin, während meine Freunde einkauften, um zu lauschen. Manchmal spielten sie auch für tanzende Schlangen. Der Titel lebt daher von der folkloristischen Musik des mittleren Ostens. Er ist sehr romantisch.
intimacy-art: Der Titel "Solferino" kommt mir sinnlich-schwül vor. Ist das dort so?
EASTWOOD:
Solferino ist eine Straße in Paris, also nicht der Ort in Italien, mit einer Brücke für Fußgänger über der Seine, mit Bänken und nahe dem Ort in
Paris, wo ich mit meiner Tochter lebte, und mit meiner Exfrau - die von spanischer Herkunft und in der Mode arbeitend naheliegenderweise auch ein gutes Kunstgespür hat. Dorthin ging ich also fast jeden Tag - manchmal aus Spaß, machmal zum Mittagessen - und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. (Er stockt, beobachtet durchs Fenster den stürmischen Hagel und lacht verwundert.)
PAUL ALBERT LEITNER:
Nanu, haben wir schon April?

EASTWOOD (lacht):
... ja, das war also ein inspirierender Platz
für mich.
intimacy-art: Und der elegant-verträumte "Paris Blue"-Covertitel ist, glaube ich, von Ihrer Tochter inspiriert?
EASTWOOD:
Ja, meine Tochter hat das Motiv über lange Zeit am Klavier gespielt, sodass ich nach einem "Mach weiter!" zwei Mikros am Piano befestigte. Sie
mußte es dreimal spielen, ich legte die Strings darunter, und das Intro war fertig. Das war sozusagen der Samen, woraus dann das Lied erwuchs.

"Pilger" auf Atmosphärensuche


intimacy-art:
Und Paul Albert Leitner ergeht sich - tatsächlich wie ein asketische Pilger - reflektierend die Städte, nicht?

LEITNER:
Nun, um das "Gefühl" einer Stadt zu erfassen, lese ich mich vorher gut ein, dann bewege ich mich als anonymer, zahlungsschwa
cher Tourist, ökonomisch vorgehend, zu Fuß und voll konzentriert vom Zentrum in immer größeren Kreisen nach außen. Ich wandere mit der Sonne, und weiß ich, wie sie sich dreht, kommt vielleicht nach großer Erschöpfung noch die Seite dran, die vorher im Schatten lag. Die Motive selbst wiederholen sich eigenartigerweise in jeder Stadt in zwanzig Themengruppen: Fassaden, Typografien, die Peripherie mit Müll, Ruinen, sowie Industrie-Landschaften: dort gibt es etwa immer typisch "aufgeladene" Tankstellen. Wie jene in Podersdorf, die man mit dem Mythenbild des Roadmovie assoziiert. Ähnlich ist es mit Edward-Hopper-Barsituationen. Die habe ich im Hinterkopf, was dann in der Atmosphäre des Fotos durchscheint. Und bin ich hier noch der Sammler, so werde ich dann beim Auswählen und Kombinieren zum reflektierenden Dichter: ich verdichte alles zu einer Ausstellung, wie zur 25-Bilder-Auswahl in der Galerie Steinek oder beim Buch Cities, Episodes mit 455 Fotografien bzw. dem jetzt erschienenen Buch Wien: Momente einer Stadt, mit den markantesten Fotos der letzten zehn Jahre. Die Fotos sind immer auch Zeitdokumente, da viele fotografierte Plätze, Lokale, Reklametafeln heute gar nicht mehr bestehen. Deshalb bekommt bei mir jedes Foto auch einen Zeit-Ort-Titel.
intimacy-art:
Haben Großstädte eine funky Atmosphäre mit groovy Rhythmus, wie es in den Titeln "Big Noise", wo Ihr Vater Clint
Eastwood pfeift, und "Cosmo" durchklingt? Repräsentiert das für Sie den Prototyp einer Urbanität?
EASTWOOD:
Ja, das kann man sagen. Mit dem Vorteil, dass sich solche Musik wirklich in allen Großstädten spielen läßt. Denn die urbane Publikumsmentalität ist
weltweit homogen. Ich bin aber generell kein Jazz-Snob, kann mich sehr an Popmusik und anderem erfreuen. Bei meiner ersten CD From There To Here ließ ich mich von Miles Davis´ und Gil Evans´ gemeinsamem, großem Orchesterjazz beeinflussen. Diese typischen, traditionellen Arrangements mag ich sehr, sodass ich sie im Soundstil übernahm. Und vorher spielte ich in Funk-Bands. Und in allen meinen Alben repräsentiere ich prinzipiell verschiedene, bevorzugte Stile.

Foto © Paul Albert Leitner: Schottenbastei,
aus Vienna: Moments Of a City


Von den Askesefarben zur Erkenntnisgewinnung


intimacy-art:
Die Askese-Farben sind nun Grün (Hoffnung, Natur, Ruhe), Blau (Treue, Keuschheit, Unergründlichkeit, Ferne) und vor allem Violett. Was für
Farben und Töne finden sie am schönsten?
EASTWOOD:
Manche Kinderstimme, Naturgeräusche und auch Autohupen - dabei dachte ich schon an ein Sample. Und Blau ist mir die liebste Farbe, aber auch
leidenschaftliches Rot.
LEITNER: Bei den Farben schließe ich mich an, ich mag auch Orange. Bei Blau denke ich an Dämmerung und Großstadt-Saxophon-Sound, wenn ein Ozeandampfer in den Hafen einfährt, mit dem lauten: "Wööööööh." Beim Fotografieren achte ich aber nur unterbewußt, intuitiv auf Farben. Ein Highlight ist, wenn eine Farbe pur daher kommt, wie beim blauen Bauzaun in Manhattan, eine Situation, die man beim Film bestellen müßte. Und "Rote Menschen" passieren mir immer wieder auf der Welt, wie der Schuljunge im roten Trainingsanzug, oder die Portugiesin, bei der absolut alles rot war: Schuhe bis Handtasche. Am stärksten inspiriert mich aber sicher Musik: Salsa sitzt mir in Havanna zum Beispiel von der Ankunft am Airport bis zur Abreise im Ohr. Wenn du da durch die Straßen gehst, ist das das reinste Salsa-Konzert. Ein heißes Gefühl hat dieser Salsa.
intimacy-art: Ich kenne einen Fotografen, der auf den Straßen immer Mädchen ansprechen muß und sie zu intimen Fotoshootings einlädt. Fallen Ihnen auch Mädchen auf?
EASTWOOD (lacht):
Nun, gelegentlich. Eigentlich mag ich aber Architekur, besonders alte, wovon Europa so viel hat, und die Natur. E
in Sonnenuntergang ist für mich immer sehr anziehend, da ich nahe dem Ozean aufgewachsen bin.
intimacy-art:
Erweitert Reisen Ihrer Ansicht nach tatsächlich den Horizont?

EASTWOOD: Bestimmt. Es lehrt dich mehr als irgendeine Schule. Ich wuchs glücklicherweise - da mein Vater in Europa arbeitete - vielreisend auf. Meine Mutter war immer sehr in Vaters Berufsweg involviert, obwohl sie zuvor Sekretärin war. Dabei malte sie in Spanien sehr viel nach Fotografie-Vorlagen. Diese Umsetzungslust habe ich wahrscheinlich von ihr übernommen. Dass man als Jazzer verschiedene Stadt-Atmosphären tanken kann, ist also tatsächlich für das Lebensgefühl bereichernd.
intimacy-art:
Und Ihnen wird vom vielen Reisen sicher schwindelig!

LEITNER:
Das kann man sagen, ja. Denn das Reisen ist heute gar nicht mehr so einfach, wie man glaubt. Mich mit der Mobilität aller Menschen zu
konfrontieren, während ich immer noch ein altmodischer Reisender bin, verschafft mir Probleme. Angefangen von den Klimaanlagen bis zur Schulterentzündung beim Fahren bei offenem Fenster. Diese Strapazen vergißt man also danach lieber.
intimacy-art:
Wie steht es im Gegensatz zur Fremde mit Ihrem Heimatbewußtsein?

LEITNER:
Es steht ein Wort im Reisepaß, das als Heimatland gelten soll, für mich stimmt jedoch: Meine Bibliothek ist meine Heimat.

EASTWOOD:
Meine Heimat kann nur manchmal die Musik sein, eher ist es das, wo meine Tochter lebt, oder wo ich aufwuchs: bei meiner Mutter. - Mein Vater lebt
mit seiner Frau in der Nähe davon. Selbst wenn ich sie nur ein-, zweimal pro Jahr besuche und das nicht wirklich meine Lebensbasis ist.
intimacy-art:
Haben Sie eine Familie?

LEITNER:
Nein.

intimacy-art: Also ein Single-Mann. - Der aber vielleicht seine Verantwortung gegenüber der Menschheit übers Publikum ausleben kann: Haben Sie das Bedürfnis nach Sinnstiftung?
LEITNER: Wenn meine Bilder in den Leuten eine Erkenntnis, eine Reflexion auslösen, ist das mein Ziel, ja.
EASTWOOD:
Bei mir können sie sich durchaus unterhalten, da es Teil und Wert der Musik-an-sich ist. Allerdings soll diese Musik schon von künstlerischer
Qualität sein, die zu bewegen vermag.

Foto © Paul Albert Leitner: Schmelzgasse,
aus Vienna: Moments Of a City

(Interview-Auszug vom 22.1.2005, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (halb Deutsch, halb Englisch) über intimacy-art@gmx.at)