Tuesday, October 17, 2006

"Ich fürchte mich vor dem Tod" - Nitsch zu Rainer, Teil 4




ARNULF RAINER und HERMANN NITSCH im letzten Teil des Gesprächs über das Altern mit einer gar nicht schweigenden ELFI OBERHUBER. Für Einführung und Teile 1,2,3 scroll down.

Photo: Hermann Nitsch (© Gai Jeger)


Von der Religiosität zur Blasphemie


intimacy-art: Man sagt ja im Volksmund, der Mensch wird im Alter religiös.
RAINER: Ja, "alte Huren werden fromm", wir waren aber nie Huren.
intimacy-art: Sie haben sich also immer mit Religion befaßt.
RAINER: Ich habe mich immer mit Religion befaßt, ja, weil sie mit Mystik zu tun hat. Ich habe aber keine konfessionelle Bindung.
NITSCH: Bei mir ist es ähnlich. Ich bin seit meinen Anfängen religiös, aber nicht konfessionell gebunden. Ich bin eher dem ganzen Schöpfungsablauf, dem Sein, zugewandt. Mich faszinieren Religionen, ich versuche sie auch immer wieder zu vergleichen und Ähnlichkeiten festzustellen. Ich habe sehr viel vom Psychoanalytiker C.G. Jung gelernt, seinem Modell des kollektiven Unbewußten, aus dem die ganzen Mythen entstehen und sich die Archetypen heraus kristallisieren. Das fasziniert mich, ob es wahr oder unwahr ist. Es stellt die Entwicklung des Bewußtseins dar, die Psychosen, wo man im Mythischen ertrinkt.
intimacy-art: Und wie bewußt ist Ihnen beiden der Moment der Blasphemie in Ihrer Kunst?
RAINER: Als Künstler kann ich, wenn ich eine Bibelillustration übermale, nicht blasphemisch werden, weil die Werksgestaltung so viel Wahrheitskraft erfordert, dass das Blasphemische, selbst wenn man sich das sogar vornehmen würde, schon längst verdunstet ist.
NITSCH: Es gibt in der Kunst weder Blasphemie, noch Pornografie, nur schlechte und gute erotische Kunst. Gemäß der Freiheit der Kunst wird der liebe Gott, selbst wenn er auf einem Bild beleidigt werden sollte, nicht wirklich beleidigt.
RAINER: Außerdem wäre das eine Interpretation, dass das eine Beleidigung wäre.

Was kommt jetzt: Der Tod, und was dann?

intimacy-art: Das sagen also immer nur die anderen, selbst beabsichtigt man es nicht. In Ihren beiden Werken kommt auch immer der Tod vor. Das paßt ja auch zum Alter: als Ausblick. In beiden Fällen ist das für mich aber so zu verstehen, dass nach dem Tod das Leben kommt. Die Freude nach dem Elend, sozusagen.
NITSCH: Thomas Mann hat einmal etwas Gescheites gesagt: "Gäbe es den Tod nicht, würde nicht philosophiert werden." Viele große Philosophen geben keine direkten Antworten. Ich habe mythische Erlebnisse gehabt und sie bis zu einem Grad hervorgerufen. Da gibt es immer wieder Momente, wo man glaubt, den Tod überwunden zu haben, weil man sich mitten in der Schöpfung befindet. Und der Tod ist eben nur eine Verwandlung, nach der man wiederkehrt. Das ist auch ein Trost. Das kommt bei den verschiedensten Religionen und in der Mystik immer wieder vor. Die Christen sind da relativ dogmatisch, während die Inder mit ihrer Wiedergeburtslehre Chiffrierungen gewisser Tatsachen vornehmen. Aber die Angst vor dem Tod kann einem niemand nehmen. Als meine Frau starb, konnten mir Philosophien gefühlsmäßige Impulse geben, aber der Tod hat in seiner Nacktheit seinen Schrecken bei mir nicht verloren. Obwohl ich glaube, dass alles wiederkehrt und dass ich Bestandteil des Ganzen bin. Es wird sehr überschätzt, dass "ich persönlich wiederkehre". Es gibt auch immer wieder den Unterschied zwischen dem Ich und dem Selbst. Das Selbst bedeutet den Kontakt zum Ganzen, und erfährt man das Selbst, hätte man eigentlich schon den Tod überwunden. Nur das Ich stirbt. Ich fürchte mich aber, trotz meines Glaubens an die Wiederkehr, rechtschaffen vor dem Tod, so wie sich ein Kind vor dem Einschlafen fürchtet. Es gibt das Gleichnis vom Zenmeister, den Räuber abstechen, und er schreit. Daraufhin wurde lange debattiert, ob er überhaupt schreien hätte dürfen. Am Ende wurde seinem Schreien recht gegeben, weil sich seine Natur trotz seiner Erleuchtung erschrocken hatte.
RAINER: Ich fürchte mich nur vor dem Leiden. Man stirbt selten im Schlaf, was ich mir aber wünschen würde. Es ist mein letzter großer Wunsch an das Leben, den Tod nicht zu merken. Wiederkehren muß ich nicht, weil ich mir denke, "um Gottes Willen, soll man sich wieder plagen?".
intimacy-art: Warum haben Sie sich aber mit Totenmasken befaßt?
RAINER: Aus Faszination. Der Tod hat mich in meiner Kunst immer fasziniert, weil er zum Leben dazu gehört. Es ist aber keine Beschäftigung mit dem wirklichen Tod, sondern nur mit der Physiognomie des wirklichen Todes.

Aktuelle Ausstellung mit Arnulf Rainer auf: www.intimacy-art.com / aKtuell / REALNEWS / TIPPS
(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print(Deutsch+Englisch)/Audio(Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

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