Photo: Hermann Nitsch (© Gai Jeger)
Nachlassende Energie, Vigilanz, Körperbeherrschung, der Tod machen auch vor Österreichs Meistern der Kunst keinen Halt. ARNULF RAINER und HERMANN NITSCH nehmen es aber mit Humor - wie im ersten Teil des "Gesprächs" mit einer schweigenden ELFI OBERHUBER.
Kurzprofil HERMANN NITSCH, geb. am 29.8.1938 (Sternbild Jungfrau) in Wien, ist international durch sein - sich der Passion Christi und dem Dionysos-Mythos anlehnendes - "Orgien-Mysterien-Theater" bekannt, bei dem durch ästhetische Ersatzhandlungen wie das Töten eines Tieres Triebe durchbrechen. Bereits während seines Studiums an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt Wien entwickelte Nitsch "den Kunstbegriff eines orgiastischen, alle Sinne ansprechenden Festes, das Kunst und Leben verbindet", realisiert in kultisch-religiösen Malaktionen prozesshaften Charakters. Die Bildtafeln und Objekte Nitschs kennzeichnen die Verbindung von Regelbefolgung durch Inszenierung und Ekstase durch explosionsartigen Ausdruck. Nitsch hatte bis 1995 eine Professur in Frankfurt. Derzeit stellt er bis 11.11.2006 in der Galerie Mike Weiss in New York, und von 29.11.06-22.01.07 im Rahmen einer großen Retrospektive in der Nationalgalerie Berlin aus.
Hypochonder Nitsch und Bettflüchtling Rainer
ARNULF RAINER: Ich habe mir gedacht, wir sprechen über das Alter.
intimacy-art: Haben Sie sich ein ganzes Konzept überlegt? - Ich hätte nämlich auch eines. - Ich darf aber schon auch das eine oder andere fragen?
HERMANN NITSCH: Das sollen Sie auch.
(Das Telefon läutet, Rainer geht kurz raus.)
intimacy-art: Sonst wird´s ja vielleicht etwas einseitig, wenn einer alles bestimmt.
NITSCH: Darüber mache ich mir keine Sorgen.
(Rainer kommt zurück.)
RAINER: Also, Nitsch, wie alt bist Du jetzt?
NITSCH: 63 (Anm. zum Zeitpunkt des Gesprächs).
RAINER: Ich geh ja schon auf die 80 zu und habe täglich Probleme: Mein Hauptproblem ist die nachlassende Energie, Vigilanz und Assoziationsflüssigkeit. Auch bei Dir habe ich gesehen, dass Du delegierst und Deine Kübel gar nicht mehr selbst trägst. Wirst Du ehrgeiziger und machst Du mehr, oder weniger?
NITSCH: Nach meiner bisherigen Erfahrung erfordert jedes Lebensalter dieselbe Energie, wobei jeweils andere Probleme zu bewältigen sind. Abgesehen davon war ich immer schon ein Hypochonder: Ich muß bis heute mit einer Herzneurose leben, die mir nie ermöglicht hat, Sport und Bergtouren zu machen.
RAINER: Hast Du nicht tatsächlich ein Problem mit dem Herzen?
NITSCH: Mit zunehmendem Alter wird die Neurose sicherlich organisch überlagert. Vordergründig ist es aber noch so, dass ich zwar in den fünften Stock steigen kann, mir aber danach Sorgen mache, ob es mir nicht geschadet hat. Meine Energie läßt aber nicht nach. Ich bin zum Beispiel ein furchtbarer Schnarcher...
RAINER: Das spricht für Energie.
NITSCH: Das bringt aber mit sich, dass man im Blut sauerstoffarm ist. Wenn man sich in der Folge nicht konzentrieren muß, schläft man ein. Ich schlafe im Zug, im Auto, im Flugzeug und schlafe auch, wenn mich ein Gespräch langweilt.
RAINER: Also ich habe immer weniger Schlafbedürfnis. Ich komme mit vier bis fünf Stunden aus, wache um vier/fünf Uhr früh auf und habe dabei Angst, die anderen Leute aufzuwecken. Das nennt man "senile Bettflucht".
NITSCH: Ich würde mir diese senile Bettflucht wünschen, weil ich dann mehr leisten könnte.
RAINER: Das kommt bei mir wohl daher, weil ich nach vier Uhr nachmittags nichts mehr esse. Dadurch habe ich einen leeren Magen und bekomme einen viel tieferen, jedoch kürzeren Schlaf. Tagsüber fehlt mir trotzdem die Energie, was dazu führt, dass ich keine Großformate mehr, sondern Kleinformate bearbeite oder weniger mache. Ich organisiere mich nach den Möglichkeiten meines Körpers.
NITSCH: Darüber kann ich Gott sei Dank noch nicht klagen. Ich war immer so voller Energie, dass ich oft feiern mußte, um überschüssige Kraft los zu werden. Sonst wäre ich vielleicht ein schwerer Neurotiker geworden. Letztenendes sehe ich das Alter positiv: Als junger Mensch hat man keinen Einfluß und muß stets darum kämpfen. Ich habe heute mehr Fähigkeiten und Möglichkeiten, Dinge zu realisieren als damals.
RAINER: Durch Kanalisierung.
NITSCH: Ich kann heute zum Beispiel viel besser frei sprechen und fast ohne Konzept eine Stunde lang einen Vortrag halten. Früher mußte ich etwas trinken, um den Mund aufzubringen.
RAINER: Tja, Du bist wohl gescheiter geworden.
NITSCH: Der Begriff "weise" ist heute vielleicht nicht mehr zuträglich, aber irgendwie habe ich doch mehr Überblick und Übung bekommen: in der Möglichkeit, besser auzuwählen. Früher ist mir so viel gleichzeitig eingefallen, dass ich fast nichts heraus bekommen habe.
RAINER: Das ist die Assoziationsflüssigkeit: Wenn einem viel einfällt, fabuliert man. Die Fantasie geht manchmal mit einem durch. Wenn man arbeitet, hat man hundert Einfälle und muss sich für etwas entscheiden.
NITSCH: Und wie man an meiner Arbeit sieht, fällt mir meiner Ansicht nach immer das Richtige ein.
Verbrauchte Künstler sehen am besten
RAINER: Mein Problem war immer auch, die Vigilanz zu halten, sprich mich auf ein gewisses Aufmerksamkeitsfeld zu konzentrieren. Kannst Du über mehrere Stunden etwas lesen?
NITSCH: Ich lese immer stehend, weil ich mich dabei besser konzentrieren kann. Beim Sitzen könnte die Möglichkeit bestehen, dass ich einschlafe. Ich lese auch sehr viel beim Spazierengehen. Da nehme ich mir schwerst zu lesende Bücher mit.
RAINER: Wegen der frischen Luft... Und wie gehts Dir mit der Sensibilität: Ist sie größer oder gröber geworden?
NITSCH: Das ist schwer zu beurteilen. Wir wissen ja alle, wie es mit den Alterswerken großer Meister ist. Vasari ließ Tizian fallen und meinte, der könnte nichts mehr. Dabei sind aber die späten Tizians die schönsten. Auch bei Beethoven waren die späten Streichquartette, bei Monet die Seerosen, bei Mahler die Zehnte Symphonie, bei Schubert die Winterreise - also die Todeswerke, wo diese Leute entweder sehr alt oder sehr verbraucht sind - am großartigsten. Man wirft ihnen aber gleichzeitig immer weniger Sensibilität oder ein Fehlen der Empfindung vor.
RAINER: Auf jeden Fall. Es gibt ja das Gerücht, dass Monet im Alter schlecht gesehen, aber trotzdem keine Brille getragen hätte, um den verschwimmenden Eindruck zu erhalten.
NITSCH: Mein Sehvermögen hat sich auch verschlechtert. Früher trug ich keine Brille. Ich sah jeden Stern und das Reiterlein. Kleine Schriften kann ich ohne Brille nicht mehr lesen.
RAINER: Bei mir verschwimmt alles, ich versuche das aber auszunutzen. Ich schaue, dass ich bei ein und demselben Bild den Wechsel zwischen mit und ohne Brille auskoste. Durch die Abwechslung schaffe ich Sachen, die mir zuvor nicht gelungen sind. Wenn ich schlechter sehe, sehe ich das Gesamtbild besser. Sehe ich gut, verliere ich mich dagegen im Detail. Dadurch kommt mir vor, dass ich im Alter sensibler, milder und sogar farbenfroher werde. Nur kann man das selber schwer beurteilen.
Und um "die Einsamkeit im Alter" geht es in Teil 2 auf dieser Seite (oben)!
(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)