Sunday, December 10, 2006

"Es gibt nur eine neue Chemie", Anne Teresa De Keersmaeker, Teil 3


Anne Teresa De Keersmaeker (© Piet Goethals)


Die belgische Choreografin ANNE TERESA DE KEERSMAEKER spricht mit ELFI OBERHUBER im letzten Teil über Tanz, der "nur durch Individuen gut wird". In ihrem aktuellen Gastspiel in Wien, Mozart / Concert Arias sind das die Männer und Frauen ihrer Company. Für Teile 1+2, scroll down!

intimacy-art: Zur Bewegungsweise in den Mozart-Arien: Hat sich gegenüber der 1992-Version etwas geändert?
KEERSMAEKER: Meine Schreibweise der Komposition hat sich nicht verändert. Die Anzahl der Darsteller ist gleich, nur der Großteil der Tänzer ist neu. Halte ich ein Stück für gut, ist es immer so, dass die Tänzer ihre eigene Geschichte aus dem Geschriebenen machen. Auch in der Musik findet eine Gruppe nur so zu ihrem indivduellen Ausdruck. Das macht den Unterschied zwischen 1992 und 2006 aus.
intimacy-art: Sind deren Charaktere anders?

KEERSMAEKER: So wie Tanz nur in Persönlichkeiten verankert sein kann. Mit dem Wechsel der Performer verändern sich diverse Balancen.
intimacy-art: Glauben Sie generell, dass sich die Tänzer über die Generationen verändert haben? Gerade weil Sie auch so viel mit Tanzschülern zu tun haben?
KEERSMAEKER: Es gibt verschiedene neue Akzente, hauptsächlich resultieren aber auch die aus den verschiedenen Naturen der Individuen. Ich würde das daher nicht als Wesen der "anderen Generation" bezeichnen. Es gibt nur eine andere Chemie.
intimacy-art: Ist es einmalig für Sie, mit Live-Orchester und Live-Sängern, die mit den Tänzern gemeinsam auf der Bühne sind, zu arbeiten?
KEERSMAEKER: Es ist sehr anders von dem, wie ich sonst arbeite. Die Sänger sind literarisch und physisch Teil der Geschichte und damit eine Herausforderung für mich.
intimacy-art: Mögen Sie dieses Stück noch, ganz ehrlich?
KEERSMAEKER: Sehr. Sonst käme es nicht mehr auf die Bühne.




Rosas in Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia (© Herman Sorgeloos)

(Interview-Auszug vom 27.11.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

"Expressivität ist nicht ausdrücklich weiblich", Anne Teresa De Keersmaeker, Teil 2


Rosas in Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia (© Herman Sorgeloos)

Die belgische Choreografin ANNE TERESA DE KEERSMAEKER spricht mit ELFI OBERHUBER im zweiten Teil über die Beziehung von Mann und Frau. In ihrem aktuellen Gastspiel in Wien, Mozart / Concert Arias tanzen die Männer für Keersmaeker ungewöhnlich "männlich".


Ohne Mann-Frau-Unterschied gäbe es kein Leben

intimacy-art: Nun gibt es eine Sache, die ich nur in Ihren Stücken finde: dass Männer oft Frauenkleider tragen und die gleichen Choreografien und Schritte tanzen wie die Frauen. Ich sehe in Ihrer choreografischen Struktur bei Mann und Frau kaum geschlechtliche Unterschiede.
KEERSMAEKER: Das stimmt nicht. Gerade in den Mozart Arias gibt es absolut typisches Vokabular für Männer und Frauen. Das meiste Vokabular wurde aber von den Tänzern und Tänzerinnen selbst entworfen, das sie dann auf einander übertrugen.
intimacy-art: Aber bei Ihnen persönlich interpretiere ich es in den letzten Jahren so, dass Sie den Wunsch haben, Männer ein wenig dazu zu zwingen, die Bewegungsweisen - und damit die Denkensweise - von Frauen zu übernehmen. In den letzten Jahrhunderten war das ja nie der Fall, ganz besonders im klassischen Ballett, wo der männliche Tänzer immer den Prinzen darstellt, mit entsprechend männlichem Ausdruck. Jetzt, wo Sie mit Ihrem Tanz in den klassischen Bereich eindringen, könnte das verändert und erweitert werden.
KEERSMAEKER: In der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes, im modernen, postmodernen und Tanz der letzten 30 Jahre, haben sich diese Rollen doch bei sehr vielen Leuten verändert. Das mache nicht ausschließlich ich.
intimacy-art: Ja, in der zeitgenössischen Szene. Aber seitens Ballett hört man ja im Extremfall sogar Klatsch über "lesbischen Keersmaeker-Stil". Wenn daran etwas stimmt, dann ist es die Stimmung der Fraulichkeit in Ihrem Tanz. Im Ausdruck und in der Art des Inhalts, der Männern manchmal nichts gibt, weil sie ihn nicht erkennen (verstehen) können.
KEERSMAEKER: Ich bin nun mal eine Frau, mit der Sensibilität, dem Körper, der Energie einer Frau. Das läßt sich nicht verleugnen. Ich bin andererseits aber auch keine Choreografin, die alle Bewegungen vorgibt, sondern die Tänzer entwickeln viel Material selbst. Das kommt daher nicht nur von mir.
intimacy-art: Vielleicht auch, da viele männliche Tänzer Ihrer Kompagnie ausgesprochen expressiv sind, wenn nicht sogar weiblich expressiv. Igor Shyshko hat zum Beispiel eine ganz leidenschaftliche Art, sich zu bewegen, ohne aber schwul zu wirken. Suchen Sie sich extra Männer, die diese Komponente in sich tragen?
KEERSMAEKER: Sicher nicht als generelle Bedingung. Es hängt von allem Möglichen ab. Wir haben ganz verschiedene Tänzertypen in der Kompagnie. Männer und Frauen haben verschiedene Eigenschaften. Manche sind ausgesprochen expressiv, andere sind wieder ganz anders.
intimacy-art: Mögen Sie es aber, wenn die Tänzer in beide Rollen schlüpfen können?
KEERSMAEKER: Abgesehen davon, dass ich Expressivität als etwas nicht ausdrücklich Weibliches sehe, ja. Das zu sagen, fände ich ...
intimacy-art: ... zu oberflächlich.
KEERSMAEKER: Ja.
intimacy-art: Kann man insgesamt dennoch sagen, dass all die Schwierigkeiten und Unterschiede im natürlichen Wesen von Mann und Frau zu einer Spannung und Kraft führen, woraus wir letztlich gewinnen, ganz besonders in der Kunst?
KEERSMAEKER: Da der Unterschied zwischen Mann und Frau überhaupt erst das Leben schafft, sicher, und die Kunst hat dem zu gehorchen. Konflikt und Vereinigung sind die Basis von allem.

Lesen Sie in Teil 3 des Gesprächs auf dieser Site: Warum bei Keersmaeker das Individuum vor "Mann" und "Frau" kommt.
(Interview-Auszug vom 27.11.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

"Ich sehe Mann und Frau heute abstrakter", Anne Teresa De Keersmaeker, Teil 1


Anne Teresa De Keersmaeker, 2004 (Foto © Tina Ruisinger)


Die belgische Choreografin ANNE TERESA DE KEERSMAEKER spricht mit ELFI OBERHUBER über die schwierige Beziehung von Mann und Frau. In ihrem aktuellen Gastspiel Mozart / Concert Arias mit ihrer Tanzcompany Rosas, den Wiener Symphonikern und Sängern in Wien ist jene ausnahmsweise auch harmonisch.

Kurzprofil ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: Geboren am 11.6.1960 in Mechelen / Belgien (Sternbild Zwillinge), besuchte die flämische Choreographin von 1978 bis 1980 Maurice Béjarts Brüsseler Mudra-Tanzschule. 1981 studierte sie an der Tisch School of the Arts in New York. Ihre erste Produktion, Asch, präsentierte sie 1980 in Brüssel. Nach ihrer Rückkehr aus den USA folgte 1982 die Choreografie Fase. 1983 gründete sie ihre eigene Tanz-Kompanie, Rosas, mit der sie gleich mit dem ersten Werk international durchstartete. Das Kaaitheater in Brüssel bot ihr in den 1980ern einen Aufführungsort für ihre Arbeiten. 1992 wurde De Keersmaekers Kompanie Rosas nach Ballettdirektor Mark Morris als ständige Kompanie an Brüssels Oper, Théatre Royal de La Monnaie, aufgenommen. 1995 gründeten De Keersmaeker und das Théatre Royal de la Monnaie die internationale Schule für modernen Tanz P.A.R.T.S. (Performing Arts Research & Training Studio), die die durch den Umzug von Béjarts École Mudra nach Lausanne entstandene Lücke füllen sollte. 2007 wird nun die Zusammenarbeit mit der Brüsseler Oper beendet - das Interview mit Keersmaeker zur aktuellen Lage ist in aKtuell/REALNEWS/INTERVIEW nachzulesen.

In Österreich ist Rosas seit Jahren bei ImPulsTanz zu Gast, und in der Kooperation mit dem Theater an der Wien war sie zuletzt 2006 als Rosas & Wiener Symphoniker mit Mozart/ Conzert Arias - Un moto di gioia am Theater an der Wien zu sehen, und am 17.+19.6.2008, 20h tritt sie mit ROSAS und dem live- Ictus Ensemble im Programm Steve Reich Evening auf.


Rosas in Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia (Foto © Herman Sorgeloos)


Mann - Frau = Vertikale - Horizontale


intimacy-art: Ihr Mozart-Stück "Concert Arias" handelt Keersmaeker-typisch von Beziehungen zwischen Mann und
Frau. Hat sich Ihr Blick über die Jahre verändert?
ANNE TERESA DE KEERSMAEKER: Es ist wahr, die Mann-Frau-Beziehung bleibt ein zentrales Thema. Ich blicke heute aber abstrakter darauf. Schon da die choreographische Erarbeitung auf Organisation von Zeit und Raum in vertikaler und horizontaler Richtung beruht.
intimacy-art: Sind Horizontale und Vertikale mit Mann und Frau gleich zu setzen?
KEERSMAEKER: Die Vertikale entspricht eher der männlichen Energie, die Horizontale der weiblichen. Eine Art Himmel und Erde als antagonistische (gegensätzliche) und komplementäre (sich gegenseitig ergänzende) Kräfte. Eine extrem simple Ausgangsbasis, die gerade wegen dieser Einfachheit zu höchster Komplexität anwachsen kann.
intimacy-art: In Ihren letzten Stücken "Raga for the Rainy Season" und "D´un soir un jour" waren die Beziehungen zwischen Mann und Frau ziemlich schwierig. In den viel früheren "Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia" (aus dem Jahr 1992) sind sie dagegen viel lustiger und leichter. Sind Sie als Choreografin kämpferischer geworden?
KEERSMAEKER: Also, ich weiß nicht ...
intimacy-art: Halten Sie die Beziehungen in den "Mozart-Arien" zumindest für unbeschwerter?
KEERSMAEKER: Nein. Sie "sind" einfach Mozart. Mozart transportiert in seiner Musik eine sehr spezielle Einstellung zu Männern und Frauen. Das zeigt sich auch in seiner Achtsamkeit gegenüber Schönheit und Harmonie. Zum Beispiel in einigen der Da-Ponte-Arien ist immer im höchsten Punkt von Traurigkeit, Einsamkeit, Schmerz eine Idee von Harmonie enthalten. So endet daher auch die Mann-Frau-Beziehung in Harmonie. Selbst die elipsoide Form der Bühne steht dafür, ein Kreis mit zwei Zentren, als Raum der Einheit für die"Zwei-heit". Sprich für die erkennbar präsenten Dualitäten von Mann und Frau.
intimacy-art: Skulpturkünstler Markus Lüpertz hat in seiner Mozart-Figur, Halb-Mann, Halb-Frau, auch das harmonische Ganze "Mozart" vereint.
KEERSMAEKER: Ah, ja. Harmonie zwischen Mann und Frau wird auch in unserem Stück ausdrücklich formuliert - zum Beispiel in der Zauberflöte zwischen Pamina und Tamino: Dass danach zu streben sei und was die Schwierigkeit dabei ist. Dahinter liegt der prinzipielle Glaube an die Liebe von Mann und Frau als himmlisches Geschenk. Ich denke, das war eine tiefe Sehnsucht Mozarts.
intimacy-art: Daher lebte er auch selbst die Liebe wie kein anderer. Seine Briefe an seine Frau bezeugen es.
KEERSMAEKER: Absolut.

Lesen Sie in Teil 2 des Gesprächs auf dieser Site: Wie A.T. De Keersmaeker Männer zum weiblichen Tanz bringt.
(Interview-Auszug vom 27.11.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

Tuesday, October 17, 2006

"Ich fürchte mich vor dem Tod" - Nitsch zu Rainer, Teil 4




ARNULF RAINER und HERMANN NITSCH im letzten Teil des Gesprächs über das Altern mit einer gar nicht schweigenden ELFI OBERHUBER. Für Einführung und Teile 1,2,3 scroll down.

Photo: Hermann Nitsch (© Gai Jeger)


Von der Religiosität zur Blasphemie


intimacy-art: Man sagt ja im Volksmund, der Mensch wird im Alter religiös.
RAINER: Ja, "alte Huren werden fromm", wir waren aber nie Huren.
intimacy-art: Sie haben sich also immer mit Religion befaßt.
RAINER: Ich habe mich immer mit Religion befaßt, ja, weil sie mit Mystik zu tun hat. Ich habe aber keine konfessionelle Bindung.
NITSCH: Bei mir ist es ähnlich. Ich bin seit meinen Anfängen religiös, aber nicht konfessionell gebunden. Ich bin eher dem ganzen Schöpfungsablauf, dem Sein, zugewandt. Mich faszinieren Religionen, ich versuche sie auch immer wieder zu vergleichen und Ähnlichkeiten festzustellen. Ich habe sehr viel vom Psychoanalytiker C.G. Jung gelernt, seinem Modell des kollektiven Unbewußten, aus dem die ganzen Mythen entstehen und sich die Archetypen heraus kristallisieren. Das fasziniert mich, ob es wahr oder unwahr ist. Es stellt die Entwicklung des Bewußtseins dar, die Psychosen, wo man im Mythischen ertrinkt.
intimacy-art: Und wie bewußt ist Ihnen beiden der Moment der Blasphemie in Ihrer Kunst?
RAINER: Als Künstler kann ich, wenn ich eine Bibelillustration übermale, nicht blasphemisch werden, weil die Werksgestaltung so viel Wahrheitskraft erfordert, dass das Blasphemische, selbst wenn man sich das sogar vornehmen würde, schon längst verdunstet ist.
NITSCH: Es gibt in der Kunst weder Blasphemie, noch Pornografie, nur schlechte und gute erotische Kunst. Gemäß der Freiheit der Kunst wird der liebe Gott, selbst wenn er auf einem Bild beleidigt werden sollte, nicht wirklich beleidigt.
RAINER: Außerdem wäre das eine Interpretation, dass das eine Beleidigung wäre.

Was kommt jetzt: Der Tod, und was dann?

intimacy-art: Das sagen also immer nur die anderen, selbst beabsichtigt man es nicht. In Ihren beiden Werken kommt auch immer der Tod vor. Das paßt ja auch zum Alter: als Ausblick. In beiden Fällen ist das für mich aber so zu verstehen, dass nach dem Tod das Leben kommt. Die Freude nach dem Elend, sozusagen.
NITSCH: Thomas Mann hat einmal etwas Gescheites gesagt: "Gäbe es den Tod nicht, würde nicht philosophiert werden." Viele große Philosophen geben keine direkten Antworten. Ich habe mythische Erlebnisse gehabt und sie bis zu einem Grad hervorgerufen. Da gibt es immer wieder Momente, wo man glaubt, den Tod überwunden zu haben, weil man sich mitten in der Schöpfung befindet. Und der Tod ist eben nur eine Verwandlung, nach der man wiederkehrt. Das ist auch ein Trost. Das kommt bei den verschiedensten Religionen und in der Mystik immer wieder vor. Die Christen sind da relativ dogmatisch, während die Inder mit ihrer Wiedergeburtslehre Chiffrierungen gewisser Tatsachen vornehmen. Aber die Angst vor dem Tod kann einem niemand nehmen. Als meine Frau starb, konnten mir Philosophien gefühlsmäßige Impulse geben, aber der Tod hat in seiner Nacktheit seinen Schrecken bei mir nicht verloren. Obwohl ich glaube, dass alles wiederkehrt und dass ich Bestandteil des Ganzen bin. Es wird sehr überschätzt, dass "ich persönlich wiederkehre". Es gibt auch immer wieder den Unterschied zwischen dem Ich und dem Selbst. Das Selbst bedeutet den Kontakt zum Ganzen, und erfährt man das Selbst, hätte man eigentlich schon den Tod überwunden. Nur das Ich stirbt. Ich fürchte mich aber, trotz meines Glaubens an die Wiederkehr, rechtschaffen vor dem Tod, so wie sich ein Kind vor dem Einschlafen fürchtet. Es gibt das Gleichnis vom Zenmeister, den Räuber abstechen, und er schreit. Daraufhin wurde lange debattiert, ob er überhaupt schreien hätte dürfen. Am Ende wurde seinem Schreien recht gegeben, weil sich seine Natur trotz seiner Erleuchtung erschrocken hatte.
RAINER: Ich fürchte mich nur vor dem Leiden. Man stirbt selten im Schlaf, was ich mir aber wünschen würde. Es ist mein letzter großer Wunsch an das Leben, den Tod nicht zu merken. Wiederkehren muß ich nicht, weil ich mir denke, "um Gottes Willen, soll man sich wieder plagen?".
intimacy-art: Warum haben Sie sich aber mit Totenmasken befaßt?
RAINER: Aus Faszination. Der Tod hat mich in meiner Kunst immer fasziniert, weil er zum Leben dazu gehört. Es ist aber keine Beschäftigung mit dem wirklichen Tod, sondern nur mit der Physiognomie des wirklichen Todes.

Aktuelle Ausstellung mit Arnulf Rainer auf: www.intimacy-art.com / aKtuell / REALNEWS / TIPPS
(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print(Deutsch+Englisch)/Audio(Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Saturday, October 07, 2006

"Wir malten Neues, die Jungen ballavern" - Rainer und Nitsch, Teil 3





ARNULF RAINER und HERMANN NITSCH im dritten Teil des Gesprächs über das Altern mit einer kaum mehr schweigenden ELFI OBERHUBER. Für Einführung und Teile 1, 2 scroll down.

Photo: Hermann Nitsch in körperlicher Erregung, Arnulf Rainer ärgert sich über die Künstlerjugend gelassener (© Gai Jeger)



Auch im Alter keine Kunst aus Selbstzweck

RAINER:
Schreibst Du noch?

NITSCH:
Ja und immer bezogen auf meine Arbeit. Schreiben war immer ein integraler Bestandteil meines Gesamtschaffens.
Diese Texte werden auch immer wieder publiziert. Ich gebe ständig Bücher heraus, selbst wenn sie niemand liest.
RAINER:
Ich habe auch relativ viel geschrieben, zum Teil unter einem Pseudonym. Heute würde ich für eine Seite
länger brauchen, als wenn ich ein Bild schaffe. Deshalb habe ich es aufgegeben.
NITSCH:
Du hast ja immer über Deine Arbeit reflektiert. Ich habe Deine Manifeste immer sehr geliebt.

intimacy-art: Das wollte ich ursprünglich fragen: Denken Sie, Ihre Werke könnten ohne Theorien und philosophische Interpretation bestehen?
RAINER: Sicher. Meine Bilder würden auch ohne wirken. Die Philosphie ist manchmal sogar eine Ablenkung. Die intellektuelle Interpretation kann die Wirkung eines Bildes auch nie erfassen. Nur durch das Auge wird das Gehirn vollständig erregt, zumindest bei mir ist das so.
NITSCH: Auch meine Arbeit müßte ohne theoretische Interpretation bestehen können. Die Kunst hat eine eigene Sprache, die nur die Kunst hat: Das ist nicht nur eine Signalsprache, sondern eine Metasprache mit tieferem Sinn.
intimacy-art: Ich denke, ein junger Künstler wird heute immer in Bezug auf die Geschichte beurteilt, während Sie noch Ihre eigenständigen Werke innerhalb der Geschichte gemacht haben und dafür anerkannt wurden.
RAINER
: Die paar österreichischen Künstler, die herausragend sind, sind international nicht vermischbar oder leicht zu kategorisieren. Sie haben ein eigenes Profil. Obwohl wir ein kleines Land und nur eine Ecke Europas sind.
NITSCH:
Andererseits glaube ich, dass die jetzigen jungen Künstler viel weniger theoretisieren, als wir das getan
haben. Sie reflektieren nicht, machen irgendwelche Gebilde, die halt dann dastehen. Für uns war das Theoretisieren nötig, da wir viel Neues finden wollten und das vor uns reflektieren mußten.
RAINER:
Es gibt heute die riesige Berufsgruppe der "Nur-Interpreten". Jene funktionieren eine Ausstellung zu einem
Diskussionsraum um. Wie im Depot, wo keiner mehr ausstellt, sondern nur noch ballavert wird. Für Künstler sind diese Diskussionen höchstens eine Anregung, aber nicht wörtlich zu nehmen.
NITSCH:
Ich glaube, das ist eher eine Abspaltung von der Kunst.

RAINER:
Das liegt auch daran, weil die für die Kunst bestimmten Gelder für diese Kunstdiskussionen verwendet
werden. Die Künstler bekommen zugunsten der Theoretiker weniger.
NITSCH: Es gibt eine Menge junger Leute, die sich sogar schon während der Ausbildung auf der Universität als Kuratoren ausbilden lassen. Meine Freundschaft mit vielen Kuratoren, auch älteren, ist zuende, weil sie nur noch Sensationen suchen und die alten Recken gar nicht mehr zu großen Ausstellungen einladen, indem sie sagen: "Die Alten sind eh schon berühmt". Sie wollen andauernd etwas Neues finden, finden aber nichts. In Venedig gibt es überhaupt nichts Neues, sondern nur Nachahmer. Das ist alles fad und langweilig. Und unsere ehemaligen Freunde zeichnen für diese Auswahlen verantwortlich. Auch das ist Einsamkeit. Wir werden vom großen Kunstbetrieb entfernt und kompensieren es dadurch, indem wir sehr, sehr viel machen und auf die Monsterveranstaltungen scheißen.

Jugend ist nicht gleich Jugend


RAINER: Wobei mich eine Ausstellung mit ein paar hundert Künstlern aber auch nicht mehr interessiert, weil man da eh untergeht. Es gibt immer welche, die Tiere in Spiritus legen und so weiter. Viele amerikanische Künstler lassen sich die Bilder schon malen, weil sie gar keine Freude an der visuellen Gestaltung mehr haben.
intimacy-art:
Das könnte man Ihnen aber auch vorwerfen: Sie waren in Ihrer Jugend ja selber so.

RAINER:
Wir haben aber immer selber gemalt.

intimacy-art: Ja, schon, ich meine aber Ihre Aggression und Widerspenstigkeit, um mit Skandalträchtigem zu provozieren!
RAINER:
Das machte ich aber nicht aus Selbstzweck.

NITSCH:
Wir haben etwas Neues gemacht.

intimacy-art:
Vielleicht suchen die jungen Künstler noch.

RAINER:
Beim Nitsch war eine tiefere Idee dahinter, die neuen Künstler provozieren aus Selbstzweck. Der
Kunstbetrieb des Ausstellungswesens hat eigene Gesetze: Andauernd muß etwas Neues passieren, jede Saison. Mich interessiert etwas, was mehr Tiefe und Intensität hat, wo auch etwas haften bleibt.
NITSCH:
Es haben heute viele Leute handwerklich-künstlerische Fähigkeiten, ihre Werke machen allerdings nicht betroffen. Das wäre aber
das Entscheidende.
RAINER: Ich dringe zum Beispiel immer mehr in die große Kunst der Geschichte, der Vergangenheit ein. Das erfordert viel mehr Geist und Einfühlungsvermögen. Ein alter Holländer wird im Allgemeinen viel zu oberflächlich angesehen. Für mich ist das eine größere Herausforderung, ein Bild, das ich mir lieber anschaue als eine Biennale.
NITSCH:
Deine Generation um Rühm und die Wiener Gruppe mußte ja nach dem zweiten Weltkrieg geradezu die Alten
Meister abstoßen. Ich konnte mit diesen Kollegen nie über Tizian oder Rembrandt sprechen. Rühm, der ja als Musiker von Schönberg restlos begeistert war, verweigerte ebenso die Alte Musik. Ich habe mich dagegen immer schon für die Alten Meister interessiert, und sie in Relation zum Neuen gestellt. Ich habe sogar in Deinen Übermalungen eine Affinität zu Rembrandt gesehen.
intimacy-art:
Sie, Herr Rainer, müßten ja zum Jahrgang von Ernst Fuchs gehören, der sich auch an Alte Meister
anlehnt.
RAINER: Ernst Fuchs war vom Manierismus beeinflußt und ist leider in einen Hyper-Kitsch hinein gerutscht. Das ist eine eigene Richtung. Wenn er gewachsen wäre, mit diesem Manierismus zu einer großen Identität wie der Dali, hätte ich für seine Sachen heute mehr übrig.
NITSCH:
Seine frühen Sachen mochte ich sehr.

intimacy-art: Seine Detail-Treue ist aber nach wie vor da. Und Sie sind in den Bibel-Übermalungen auch sehr detailgenau und feiner denn je.
RAINER: Meine Bibelübermalungen habe ich ja so gelöst, dass ich alte Bibelillustrationen aus verschiedenen Jahrhunderten bearbeitet habe. Das sind aber auch Illustrationen und damit nicht für die Wand gedacht, weshalb ich sehr detailiert sein muss und kann.

Und wie sich Rainer und Nitsch auf den Tod einstellen, das erfahren Sie in Teil 4 demnächst auf dieser Site

(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print(Deutsch+Englisch)/Audio(Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Wednesday, September 13, 2006

"Der Rainer hat mich nach Ängsten gefragt" Teil 2


ARNULF RAINER & HER- MANN NITSCH im zweiten Teil des "Gesprächs" über das Altern mit einer fast schweigenden ELFI OBERHUBER. - Für weitere Einführung und Teil 1 scroll down.

Kurzprofil ARNULF RAINER 8.12.1929 in Baden / Wien geboren (Schütze), gilt als "der" international bekannteste österreichische Maler der Nachkriegszeit. In den frühen Sechzigern begann er mit "der Malerei, um die Malerei zu verlassen". Zuvor war er dem Fantastischen Realismus zugewandt, der ihn aber nicht befriedigte. Seine Studien an den Wiener Kunst-Hochschulen brach er nach wenigen Tagen ab. Auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten ("Blind-Malereien") entstanden viele Variationen seines Übermalungskonzeptes, die von Grimassenfotos über expressive Fingermalereien bis zu Kreuzserien reichen. Bis 1995 war Rainer Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien. 1993 wurde das Arnulf Rainer Museum in New York eröffnet. Zur Zeit stellt Rainer bis 4.3.2007 sämtliche Plakat-Originalentwürfe im Wiener Museum für Angewandte Kunst aus.

Photo: Arnulf Rainer (© Gai Jeger)

Zwei einsame alte Herren?

RAINER: Ein klassisches Problem ist sicher die Einsamkeit des alternden Künstlers.
NITSCH: Ja, obwohl ich eigentlich immer bekannter werde, Erfolg habe und gleichzeitig noch immer Ablehnung vorhanden ist, habe ich das Gefühl, immer einsamer zu werden. Die alten Freundschaften sind nicht mehr zu pflegen, einerseits wegen geografischer Umstände, andererseits wegen der eigenen Krankheiten und der Krankheiten von Kollegen, die Flexibilität verhindern. Wir - Hartmann, Rühm, Brus, Oswald Wiener, etc. und ich - haben alle im Ausland gelebt. Hatte einer von uns in Berlin oder Stuttgart eine Ausstellung, fuhren wir alle hin. Oder wir trafen uns bei den Messen, was natürlich sehr schön war. Jetzt sind wir alle sehr einsam, auch weil es, leider Gottes, die Konkurrenz zwischen Künstlern gibt. Jeder hat sich sein Imperium aufgebaut, und sich vom anderen künstlerisch entfernt. Nur mit ein paar alten Freunden streitet man noch. Mein Haus ist zwar nach wie vor ein geselliges Haus, da ja viele Leute, Käufer, Bankleute, usw. nach Prinzendorf kommen, um mein Werk sehen zu wollen: Da spiele ich immer den Kasperl, was ihnen recht gefällt, doch die sehr schönen Feste sind verloren gegangen.
RAINER: Schließt Du keine neuen Freundschaften mehr?
NITSCH: Mit Jüngeren. Assistenten. Das ist oft sehr schön, aber mit den Lebensfreundschaften, wie man sie bis dreißig schließt, ist es, glaube ich, vorbei.
RAINER: Ich bin ein Hagestolz geworden. Es tut mir leid, dass ich keine engeren Freundschaften mehr schließen, auch keine große Bindungen mit Frauen mehr eingehen kann. Mir ist die Klebe- und Dialogfähigkeit abhanden gekommen. Wenn mir aber jemand wichtig ist, geht das nicht so schnell an mir vorbei. Ich mache mir aber keine Illusionen darüber, den Weg der Einsamkeit gehen zu müssen. Höchstens die Kinder sind noch wichtig, was aber eine andere Beziehung ist. Du hast ja keine Kinder.
NITSCH: Ich habe keine eigenen Kinder, aber einen Pflegesohn, zu dem ich geografisch keine enge, aber eine sehr herzliche Beziehung habe. Er lebt in Kassel.
intimacy-art: Sind Sie verheiratet oder haben Sie eine Lebensgefährtin?
NITSCH: Ich bin verheiratet.
intimacy-art: Und Sie?
RAINER: Ich bin nicht verheiratet, nein.
intimacy-art: Und waren es auch nie?
RAINER: Ich war drei- oder viermal verheiratet und hatte immer Traum-Scheidungen ohne Streit...


Zwei ängstliche alte Herren?

RAINER: Hast Du irgendwelche Perspektiven?
NITSCH: Da ich ja bis heute mein Jugendwerk verwirkliche, hoffe ich, dass das Ganze aus den groben Skizzen, die ich als Zwanzigjähriger gemacht habe, wächst wie ein Baum. Damals hätte ich die Fähigkeiten zur völligen Realisation noch nicht gehabt.
RAINER: Ich achte eher darauf, noch etwas Neues zu machen. Vielleicht wird die Nachwelt über meine Kunst einmal sagen, "das ist ein Baum mit einem gemeinsamen Stamm", beabsichtigt ist es von mir jedoch nicht. Nitsch, was hast Du aber für Ängste?
NITSCH: Ängste wegen der Gesundheit: Wenn ich erfahre, dass jemand in meinem Bekanntenkreis die und jene schreckliche Krankheit hat, bekomme ich zumindest leichte Symptome in der Richtung. Ich trage daher stets irgendwelche Leiden mit mir herum, bei denen ich furchtbare Angst habe, dass sie zu etwas Schrecklichem ausbrechen. Das hat mich mein ganzes Leben gequält.
(Das Handy der Journalistin läutet)
NITSCH: Und vor Handys habe ich auch Angst.
intimacy-art: Oberhuber? Ah, Frau Nitsch!
NITSCH: Was habe ich wieder angestellt?
intimacy-art: Nanu, woher haben Sie meine Nummer? - Ja, Moment. Für Sie.
(Gibt Nitsch das Handy, seine Frau möchte ihn sprechen)
NITSCH: (spricht hinein) Gerade hat mich der Rainer gefragt, ob ich Ängste hätte. Hallo? Na, na, das hätte ich nie gesagt. Aber dann hat das Handy geläutet und schon hat´s mich getroffen! Was gibt´s?... Ja, das geht sich aus. Wie lange sind sie denn da? Ja, ja. Und die lassen mich dann eh in Ruh, und werden mich dann nicht behelligen?! Ich habe am Abend einen Termin, da gehe ich hin, das geht sich also aus. Gut. Also, Wiedersehen!


Und an der "wenig originären, nur nachahmenden Künstlerjugend" stoßen sich Rainer und Nitsch in Teil 3
(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über
intimacy-art@gmx.at)

Friday, September 08, 2006

"Nitsch, wie alt bist Du jetzt?", Teil 1


Photo: Hermann Nitsch (© Gai Jeger)

Nachlassende Energie, Vigilanz, Körperbeherrschung, der Tod machen auch vor Österreichs Meistern der Kunst keinen Halt. ARNULF RAINER und HERMANN NITSCH nehmen es aber mit Humor - wie im ersten Teil des "Gesprächs" mit einer schweigenden ELFI OBERHUBER.

Kurzprofil HERMANN NITSCH, geb. am 29.8.1938 (Sternbild Jungfrau) in Wien, ist international durch sein - sich der Passion Christi und dem Dionysos-Mythos anlehnendes - "Orgien-Mysterien-Theater" bekannt, bei dem durch ästhetische Ersatzhandlungen wie das Töten eines Tieres Triebe durchbrechen. Bereits während seines Studiums an der Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt Wien entwickelte Nitsch "den Kunstbegriff eines orgiastischen, alle Sinne ansprechenden Festes, das Kunst und Leben verbindet", realisiert in kultisch-religiösen Malaktionen prozesshaften Charakters. Die Bildtafeln und Objekte Nitschs kennzeichnen die Verbindung von Regelbefolgung durch Inszenierung und Ekstase durch explosionsartigen Ausdruck. Nitsch hatte bis 1995 eine Professur in Frankfurt. Derzeit stellt er bis 11.11.2006 in der Galerie Mike Weiss in New York, und von 29.11.06-22.01.07 im Rahmen einer großen Retrospektive in der Nationalgalerie Berlin aus.


Hypochonder Nitsch und Bettflüchtling Rainer


ARNULF RAINER: Ich habe mir gedacht, wir sprechen über das Alter.
intimacy-art: Haben Sie sich ein ganzes Konzept überlegt? - Ich hätte nämlich auch eines. - Ich darf aber schon auch das eine oder andere fragen?
HERMANN NITSCH: Das sollen Sie auch.
(Das Telefon läutet, Rainer geht kurz raus.)
intimacy-art:
Sonst wird´s ja vielleicht etwas einseitig, wenn einer alles bestimmt.
NITSCH: Darüber mache ich mir keine Sorgen.
(Rainer kommt zurück.)
RAINER: Also, Nitsch, wie alt bist Du jetzt?
NITSCH: 63 (Anm. zum Zeitpunkt des Gesprächs).
RAINER: Ich geh ja schon auf die 80 zu und habe täglich Probleme: Mein Hauptproblem ist die nachlassende Energie, Vigilanz und Assoziationsflüssigkeit. Auch bei Dir habe ich gesehen, dass Du delegierst und Deine Kübel gar nicht mehr selbst trägst. Wirst Du ehrgeiziger und machst Du mehr, oder weniger?
NITSCH: Nach meiner bisherigen Erfahrung erfordert jedes Lebensalter dieselbe Energie, wobei jeweils andere Probleme zu bewältigen sind. Abgesehen davon war ich immer schon ein Hypochonder: Ich muß bis heute mit einer Herzneurose leben, die mir nie ermöglicht hat, Sport und Bergtouren zu machen.
RAINER: Hast Du nicht tatsächlich ein Problem mit dem Herzen?
NITSCH: Mit zunehmendem Alter wird die Neurose sicherlich organisch überlagert. Vordergründig ist es aber noch so, dass ich zwar in den fünften Stock steigen kann, mir aber danach Sorgen mache, ob es mir nicht geschadet hat. Meine Energie läßt aber nicht nach. Ich bin zum Beispiel ein furchtbarer Schnarcher...
RAINER: Das spricht für Energie.
NITSCH: Das bringt aber mit sich, dass man im Blut sauerstoffarm ist. Wenn man sich in der Folge nicht konzentrieren muß, schläft man ein. Ich schlafe im Zug, im Auto, im Flugzeug und schlafe auch, wenn mich ein Gespräch langweilt.
RAINER: Also ich habe immer weniger Schlafbedürfnis. Ich komme mit vier bis fünf Stunden aus, wache um vier/fünf Uhr früh auf und habe dabei Angst, die anderen Leute aufzuwecken. Das nennt man "senile Bettflucht".
NITSCH: Ich würde mir diese senile Bettflucht wünschen, weil ich dann mehr leisten könnte.
RAINER: Das kommt bei mir wohl daher, weil ich nach vier Uhr nachmittags nichts mehr esse. Dadurch habe ich einen leeren Magen und bekomme einen viel tieferen, jedoch kürzeren Schlaf. Tagsüber fehlt mir trotzdem die Energie, was dazu führt, dass ich keine Großformate mehr, sondern Kleinformate bearbeite oder weniger mache. Ich organisiere mich nach den Möglichkeiten meines Körpers.
NITSCH: Darüber kann ich Gott sei Dank noch nicht klagen. Ich war immer so voller Energie, dass ich oft feiern mußte, um überschüssige Kraft los zu werden. Sonst wäre ich vielleicht ein schwerer Neurotiker geworden. Letztenendes sehe ich das Alter positiv: Als junger Mensch hat man keinen Einfluß und muß stets darum kämpfen. Ich habe heute mehr Fähigkeiten und Möglichkeiten, Dinge zu realisieren als damals.
RAINER: Durch Kanalisierung.
NITSCH: Ich kann heute zum Beispiel viel besser frei sprechen und fast ohne Konzept eine Stunde lang einen Vortrag halten. Früher mußte ich etwas trinken, um den Mund aufzubringen.
RAINER: Tja, Du bist wohl gescheiter geworden.
NITSCH: Der Begriff "weise" ist heute vielleicht nicht mehr zuträglich, aber irgendwie habe ich doch mehr Überblick und Übung bekommen: in der Möglichkeit, besser auzuwählen. Früher ist mir so viel gleichzeitig eingefallen, dass ich fast nichts heraus bekommen habe.
RAINER: Das ist die Assoziationsflüssigkeit: Wenn einem viel einfällt, fabuliert man. Die Fantasie geht manchmal mit einem durch. Wenn man arbeitet, hat man hundert Einfälle und muss sich für etwas entscheiden.
NITSCH: Und wie man an meiner Arbeit sieht, fällt mir meiner Ansicht nach immer das Richtige ein.


Verbrauchte Künstler sehen am besten

RAINER: Mein Problem war immer auch, die Vigilanz zu halten, sprich mich auf ein gewisses Aufmerksamkeitsfeld zu konzentrieren. Kannst Du über mehrere Stunden etwas lesen?
NITSCH: Ich lese immer stehend, weil ich mich dabei besser konzentrieren kann. Beim Sitzen könnte die Möglichkeit bestehen, dass ich einschlafe. Ich lese auch sehr viel beim Spazierengehen. Da nehme ich mir schwerst zu lesende Bücher mit.
RAINER: Wegen der frischen Luft... Und wie gehts Dir mit der Sensibilität: Ist sie größer oder gröber geworden?
NITSCH: Das ist schwer zu beurteilen. Wir wissen ja alle, wie es mit den Alterswerken großer Meister ist. Vasari ließ Tizian fallen und meinte, der könnte nichts mehr. Dabei sind aber die späten Tizians die schönsten. Auch bei Beethoven waren die späten Streichquartette, bei Monet die Seerosen, bei Mahler die Zehnte Symphonie, bei Schubert die Winterreise - also die Todeswerke, wo diese Leute entweder sehr alt oder sehr verbraucht sind - am großartigsten. Man wirft ihnen aber gleichzeitig immer weniger Sensibilität oder ein Fehlen der Empfindung vor.
RAINER: Auf jeden Fall. Es gibt ja das Gerücht, dass Monet im Alter schlecht gesehen, aber trotzdem keine Brille getragen hätte, um den verschwimmenden Eindruck zu erhalten.
NITSCH: Mein Sehvermögen hat sich auch verschlechtert. Früher trug ich keine Brille. Ich sah jeden Stern und das Reiterlein. Kleine Schriften kann ich ohne Brille nicht mehr lesen.
RAINER: Bei mir verschwimmt alles, ich versuche das aber auszunutzen. Ich schaue, dass ich bei ein und demselben Bild den Wechsel zwischen mit und ohne Brille auskoste. Durch die Abwechslung schaffe ich Sachen, die mir zuvor nicht gelungen sind. Wenn ich schlechter sehe, sehe ich das Gesamtbild besser. Sehe ich gut, verliere ich mich dagegen im Detail. Dadurch kommt mir vor, dass ich im Alter sensibler, milder und sogar farbenfroher werde. Nur kann man das selber schwer beurteilen.

Und um "die Einsamkeit im Alter" geht es in Teil 2 auf dieser Seite (oben)!
(Interview-Auszug vom Oktober/2001, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)