Sunday, December 10, 2006

"Expressivität ist nicht ausdrücklich weiblich", Anne Teresa De Keersmaeker, Teil 2


Rosas in Mozart / Concert Arias - Un moto di gioia (© Herman Sorgeloos)

Die belgische Choreografin ANNE TERESA DE KEERSMAEKER spricht mit ELFI OBERHUBER im zweiten Teil über die Beziehung von Mann und Frau. In ihrem aktuellen Gastspiel in Wien, Mozart / Concert Arias tanzen die Männer für Keersmaeker ungewöhnlich "männlich".


Ohne Mann-Frau-Unterschied gäbe es kein Leben

intimacy-art: Nun gibt es eine Sache, die ich nur in Ihren Stücken finde: dass Männer oft Frauenkleider tragen und die gleichen Choreografien und Schritte tanzen wie die Frauen. Ich sehe in Ihrer choreografischen Struktur bei Mann und Frau kaum geschlechtliche Unterschiede.
KEERSMAEKER: Das stimmt nicht. Gerade in den Mozart Arias gibt es absolut typisches Vokabular für Männer und Frauen. Das meiste Vokabular wurde aber von den Tänzern und Tänzerinnen selbst entworfen, das sie dann auf einander übertrugen.
intimacy-art: Aber bei Ihnen persönlich interpretiere ich es in den letzten Jahren so, dass Sie den Wunsch haben, Männer ein wenig dazu zu zwingen, die Bewegungsweisen - und damit die Denkensweise - von Frauen zu übernehmen. In den letzten Jahrhunderten war das ja nie der Fall, ganz besonders im klassischen Ballett, wo der männliche Tänzer immer den Prinzen darstellt, mit entsprechend männlichem Ausdruck. Jetzt, wo Sie mit Ihrem Tanz in den klassischen Bereich eindringen, könnte das verändert und erweitert werden.
KEERSMAEKER: In der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes, im modernen, postmodernen und Tanz der letzten 30 Jahre, haben sich diese Rollen doch bei sehr vielen Leuten verändert. Das mache nicht ausschließlich ich.
intimacy-art: Ja, in der zeitgenössischen Szene. Aber seitens Ballett hört man ja im Extremfall sogar Klatsch über "lesbischen Keersmaeker-Stil". Wenn daran etwas stimmt, dann ist es die Stimmung der Fraulichkeit in Ihrem Tanz. Im Ausdruck und in der Art des Inhalts, der Männern manchmal nichts gibt, weil sie ihn nicht erkennen (verstehen) können.
KEERSMAEKER: Ich bin nun mal eine Frau, mit der Sensibilität, dem Körper, der Energie einer Frau. Das läßt sich nicht verleugnen. Ich bin andererseits aber auch keine Choreografin, die alle Bewegungen vorgibt, sondern die Tänzer entwickeln viel Material selbst. Das kommt daher nicht nur von mir.
intimacy-art: Vielleicht auch, da viele männliche Tänzer Ihrer Kompagnie ausgesprochen expressiv sind, wenn nicht sogar weiblich expressiv. Igor Shyshko hat zum Beispiel eine ganz leidenschaftliche Art, sich zu bewegen, ohne aber schwul zu wirken. Suchen Sie sich extra Männer, die diese Komponente in sich tragen?
KEERSMAEKER: Sicher nicht als generelle Bedingung. Es hängt von allem Möglichen ab. Wir haben ganz verschiedene Tänzertypen in der Kompagnie. Männer und Frauen haben verschiedene Eigenschaften. Manche sind ausgesprochen expressiv, andere sind wieder ganz anders.
intimacy-art: Mögen Sie es aber, wenn die Tänzer in beide Rollen schlüpfen können?
KEERSMAEKER: Abgesehen davon, dass ich Expressivität als etwas nicht ausdrücklich Weibliches sehe, ja. Das zu sagen, fände ich ...
intimacy-art: ... zu oberflächlich.
KEERSMAEKER: Ja.
intimacy-art: Kann man insgesamt dennoch sagen, dass all die Schwierigkeiten und Unterschiede im natürlichen Wesen von Mann und Frau zu einer Spannung und Kraft führen, woraus wir letztlich gewinnen, ganz besonders in der Kunst?
KEERSMAEKER: Da der Unterschied zwischen Mann und Frau überhaupt erst das Leben schafft, sicher, und die Kunst hat dem zu gehorchen. Konflikt und Vereinigung sind die Basis von allem.

Lesen Sie in Teil 3 des Gesprächs auf dieser Site: Warum bei Keersmaeker das Individuum vor "Mann" und "Frau" kommt.
(Interview-Auszug vom 27.11.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

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