Friday, April 27, 2007

Marie Zimmermann zu Heribert Sasse 1: "Helden entscheiden sich für den Tod, auch wenn sie wissen, ohnehin sterben zu müssen"


Marie Zimmermann (Foto © Michael Dürr, Faksimile)


Am 11. Mai werden unter großem Tamtam am Wiener Rathausplatz die bis 19. Juni 2007 dauernden Wiener Festwochen eröffnet. Für den Programmbereich "Schauspiel" war die weltpolitisch interssierte MARIE ZIMMERMANN verantwortlich, die sich vor wenigen Tagen das Leben genommen hat. Der Schock sitzt tief, auch bei Festivalintendant Luc Bondy, der bei der Programmpräsentation am 26.4. bedauerte: "Marie Zimmermann wäre jetzt eigentlich neben mir gesessen, wir hätten uns gegenseitig gelobt und gedankt. Ich hätte ihr gratuliert, zu ihrer großen künftigen Aufgabe bei der Ruhr-Triennale." Ergänzend mit vorwurfsvollem Unterton: "Der Abgang hätte nicht so abrupt sein dürfen. Wir hatten ja schon künftige gemeinsame Projekte ausgeheckt... Ich wußte von ihrer schweren Gemütskrankheit, empfand sie im Frühling aber stets als fröhlicher. Trotz Erschöpfung nach all dem Reisen war sie immer voller Lampenfieber zum Festivalstart... Ihre Seelenschwere ist für mich schwer zu verstehen, ganz nach dem von Marie mir immer wieder nahegelegten Arthur Schnitzler: "Die Seele ist ein weites Land."
- Schöne, hochinteressante Stücke und Musikwerke stehen heuer zur Aufführung, doch vieles erinnert nun auch konkret an die manisch-depressive Krankheit von Marie Zimmermann. Dass sie bereits im Mai 2003 zumindest theoretisch - existentialistische Selbstmord-Überlegungen führte, lässt sich im Nachhinein dem Gespräch mit Schauspieler-Regisseur HERIBERT SASSE, geführt von ELFI OBERHUBER, zum damals von ihr selbst programmierten Festivalthema "Neue Helden" entnehmen.


Kurzprofil MARIE ZIMMERMANN, als jüngstes Kind einer katholischen Grossfamilie am 27.12.1955 in Aachen (BRD, Sternbild Steinbock) geboren, gestorben am 18.4.2007 in Hamburg. Studierte in Aachen Germanistik, Philosophie und Soziologie. Zunächst freie Journalistin & Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft / Deutsch. ´85 PR & Dramaturgie im Geschäftsführerstatus bei ihrem Ehemann Friedrich Schirmer (bis ´89 Landesbühne Esslingen, 89-´93 Städt. Bühnen Freiburg, ´93-´99 Staatstheater Stuttgart). ´97-´00 künstl. Direktorin des internationalen Festivals Theaterforum Braunschweig/Hannover. ´98 Jurorin im Wiener Festwochen-Regiewettbewerb, und von 2001 bis Juni 2007 Schauspiel-Direktorin. Nachfolgerin ist Stefanie Carp. Besonders stolz war sie auf ihr Jahr als Intendantin des Theaters der Welt in Stuttgart, für das sie sich 2005 in Wien karenzieren ließ. Wäre ab 2008 Künstlerische Leiterin der Ruhr-Triennale gewesen. Mit einem Gespür für soziale Gerechtigkeit und einer Vorliebe für Diskussionen, war Zimmermann in hohem Maß "journalistische Theaterfrau". Sie brachte politisch relevante und neue Theaterformen der Weltränder nach Wien. Genreübergreifend und jugendinteressiert liebte sie qualitativ hochstehendes Performance- und Figuren-Theater.

Einen persönlichen Abschied von e.o. gibt es auf www.intimacy-art.com, in aKtuell / REALNEWS / WATCHER; Archive April 2007, scroll down! zu Titel: ABSCHIED VON DER TATSÄCHLICH WIDERSPRÜCHLICHEN MARIE ZIMMERMANN


Vom "(Irr)glauben" des Selbstmörders als Held

intimacy-art: Was ist für Sie beide persönlich ein Held?
MARIE ZIMMERMANN: Jesus, aus´m Kaltstart philosophisch werden?
HERIBERT SASSE: Jemand, der nein sagt, auch wenn er weiss, dass es ihn sein Leben kostet.
intimacy-art: Er muss also bis an die Grenzen seines Lebens gehen?
ZIMMERMANN: "Nur" an die Grenzen - glaub ich nicht. Das sind Menschen, die sich in jeder Situation - sei sie existentiell bedrängend oder nicht - ihre Freiheit bewahren. Die Helden der letzten fünf Jahre sind für mich als Vielfliegerin jene, die am 11. September die Maschine in Pittsburgh zum Absturz brachten. Sie nahmen sich die Freiheit, sich für den Tod zu entscheiden, obwohl sie wußten, dass sie ohnehin sterben müssen. Ich finde es aber skandalös, dass das nur mit einer Fußnote bemerkt wurde. Erst seit diesem Ereignis weiß ich: "Ich bin nie wehrlos, sondern entscheide mich, meine Kräfte nicht zu gebrauchen." Helden sind entscheidungsfreudige Menschen mit einem unmittelbaren, intuitiven Verhältnis zu ihrer Freiheit, die den Unfreiheits-Satz, "hier steh ich nun und kann nicht anders" für den dümmsten der deutschen Sprache halten. Sie können immer, müssen aber nie.
intimacy-art: Wenn Sie Ihre Laufbahn, Ihr Leben betrachten - hatten Sie je das Gefühl: "da habe ich mich als Held gefühlt"?
ZIMMERMANN: Ne. Ich bin Jahrgang 1955 - in Deutschland geboren und aufgewachsen - und hab dort von allen Katastrophen und Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts nur profitiert. Ich bin daher nie in die Situation gekommen, mich besonders heldenhaft verhalten zu müssen.
intimacy-art: Und Heribert Sasse? Aber nicht gehemmt sein!
SASSE: Ich bin nicht gehemmt, wie kommen Sie darauf? Mein Beruf ist es, nicht gehemmt zu sein.
ZIMMERMANN (lacht)
SASSE: Ich kam leider oder Gott-sei-dank nie in die Situation, in einem Flugzeug zu sitzen und so etwas zu entscheiden. Ich weiß offen gesagt auch nicht, ob ich "dieser Held" dann wäre. Man wünscht sich das immer im Nachhinein, oder wenn man darüber liest. Aber ich war mal nah dran: Meine Frau war im achten Monat schwanger, und die Berliner Regierung verlangte von mir, das Politikerfestival 87/88 für Helmut Kohl auszurichten. Und ich sagte: "Nein, das mache ich nicht." Ich habe mich also unter Androhung der fristlosen Entlassung dagegen entschieden. Es ist dann nicht so weit gekommen, wobei Kohl noch ganz witzig fragte: "Wieso machen Sie das nicht?" Und ich: "Mir fällt nichts ein." - Dem Minetti konnte man das nicht zumuten, und mir auch nicht: sich hin zu stellen und ein Gedicht aufzusagen.

Im Moment der Entscheidung ohne Heldenbild

ZIMMERMANN: Während so einer instinktiven Entscheidung, wird niemand ein Gefühl dafür bekommen, gerade ein Held zu sein. Der Held ist ein Begriff aus dem Theater und dem Kriegswesen. Jemand wird im Nachhinein ausgezeichnet und im Theater sofort akklamiert, wenn er seine Rolle erfüllt. Wonach Sie fragen, ist das Gefühl, einmal mutig und furchtlos gewesen zu sein. Und da muß ich sagen: Ich bin von einer - bis zurück zu den Großeltern - für ihre Möglichkeiten und ihre Zeit immer sehr furchtlosen Familie erzogen worden. Das hat sich also übertragen. Ich mußte vor den Personen, die mir begegneten, nie einknicken und hatte deshalb auch nie das Gefühl, ein Held zu sein. Sondern: ich entscheide mich halt im Rahmen meiner Entscheidungsmöglichkeiten so. Ob man es nun plausibel findet oder nicht. In dem Moment der Entscheidung empfindet man keine Bedrückung. Man schreitet ja nicht wie ein Hollywood-Star durch sein eigenes Leben.
SASSE: Richtig, und man hat die Weisheit auch nicht mit dem Löffel gefressen. Wichtig ist nur, dass man im Moment zu seiner Entscheidung steht, auch wenn sie für andere oder später falsch sein kann. Schlimm finde ich nur, wenn man im Grunde genau weiß, dass die Entscheidung eigentlich falsch ist und man sie trotzdem fällt. Das würde ich Anti-Heldentum nennen.
intimacy-art: Wenn man sich selbst also untreu wird?
SASSE: Ja.
intimacy-art: Ich hab nun für mich selbst den Held in der Kunstszene so definiert, dass das jemand ist, der seine Sache unermüdlich verfolgt - innovativ oder bürgerlich - auch wenn ihn mächtige Leute daran hindern wollen. Das wäre für mich also schon im Alltag ein Held.
ZIMMERMANN: Dagegen würde ich gerne polemisieren. Ich glaube, dass der Begriff des Helden - so wie Sie ihn da skizzieren - für die Zuschauer - egal ob im Alltagsleben, Zuschauerraum, Kino oder vor dem Fernseher - eine prima Ausrede für die eigene Passivität ist, sich immer fragend, "was hat der, was ich nicht habe?", und das ist meistens viel. Angefangen vom Aussehen, den finanziellen Möglichkeiten bis zum kreativen Bereich. Ein Künstler, der das tut, was er machen muß - ob er dafür öffentliches Geld, Zuspruch kriegt oder nicht - ist erst mal nichts weiter als konsequent. Denn er tut das, was er tun kann, mit Leidenschaft, und nicht, weil er es um jeden Preis verwerten will. Das macht ihn aber noch nicht zum Helden. Sondern den findet man im Verborgenen, nämlich da, wo die Leute nicht hinschauen. - Beim Wort unermüdlich kriege ich immer gleich das Gefühl von einer permanenten Anstrengung, die unmenschlich ist. Wir wissen doch gar nicht, wann wir im Laufe eines Tages oder des Lebens vor eine Situation gestellt werden, in der wir, und nur wir, entscheiden müssen und können, wie´s geht. Und wir wissen auch vor der Entscheidung nicht, ob sie richtig ist. Das hat nichts mit Unermüdlichkeit zu tun, sondern mit Wachheit. Dass man nicht ständig denkt, man müßte woanders sein, woanders besetzt sein - ...
SASSE (lacht)
ZIMMERMANN: ... möglicherweise als Held. Sondern da, wo man ist, zu begreifen: das ist der schmale Grat an Realität mit den Menschen, die ich liebe, mit denen ich zusammen sein muß, weil sie meine Berufskollegen sind, wo ich mein Leben gestalten muß. Da findet man, glaube ich, viel mehr von dieser Entschlossenheit, die kein Begriff von sich selbst haben muß. Also, ich glaube nicht, dass die Helden von Troja gewußt haben, dass irgendein komischer Kauz namens Homer ihren Mist aufschreibt, sodass man sich das in 2 1/2 tausend Jahren immer noch erzählen wird. Sie zogen ihrem Alltgagsgeschäft nachgehend, einfach in den Krieg, unsicher, was hinter ihnen die zurückgebliebenen Frauen treiben. "Held sein" ist also etwas für Leute, die zugucken. Freiheit ist es für die, die sie sich nehmen. Wenn man jemandem zuschaut, der sich in einer aussichtslosen, verzwickten oder schwierigen Situation eine Freiheit nimmt, von der wir alle gar keinen Begriff haben, dass es die gibt, ist man erstaunt, ...
SASSE: ... dass der das macht.
ZIMMERMANN: Und um es von sich selbst fernhalten zu können, und sich am nächsten Morgen nicht selbst an dieser Erfahrung zu messen, sagt man halt, "das ist ein Held". Es geht um konkret das, was Heribert Sasse am Anfang gesagt hat: Ums Ja und Nein sagen. Und da man in dieser Gesellschaft eher Ja sagt, wenn man Nein meint und umgekehrt, betrachten wir die Leute, die Klartext reden, als die privilegierten Helden, die wir dann verehren. Aber leider meistens ohne Konsequenzen für uns selbst.

Der Held im Alltag

intimacy-art: Sie sagen also, dass das eigentlich nur der Außenstehende beurteilen kann, trotzdem möchte ich Heribert Sasse fragen - denn deshalb habe ich Sie ausgesucht - ...
SASSE: Aber ich kann die Rolle nicht spielen, die Sie von mir wollen.
intimacy-art: Nein, das müssen Sie auch nicht.
SASSE: Das ist für mich gleich wie im Beruf: die Schwierigkeiten fangen an, wenn jemand anruft und sagt, "ich stelle Sie mir als Held vor" und ich mir mich in dieser Rolle aber als gescheiterte Figur vorstelle, wie beispielsweise beim Josef Tura in Noch ist Polen nicht verloren, wo der Schotti (Regisseur Michael Schottenberg) und ich lange diskutierten, und ich der Meinung war, die ganze politische Schiene sei für so jemanden überhaupt uninteressant. So ein naiver Theaterakrobat der Provinz macht sich nur aus einem Grund vor der SS zum Affen, was ja wirklich lebensgefährlich ist - nämlich, um mit seiner Geschichte mehr auftrumpfen zu können als der Fliegerleutnant und damit seine Frau zurück zu bekommen ...
ZIMMERMANN: ... und zwar als Schauspieler.
SASSE: Richtig. Als toller Bursch, um zu sagen: "So, und jetzt kannst du den Flieger an die Wand picken." Für die anderen mag er ein Held sein, für sich ist er als Schauspieler das erste und wahrscheinlich letzte Mal in seinem Leben richtig gut gewesen. Darum geht es ihm in diesem Moment.
intimacy-art: Ich meinte aber Sie als Person und nicht den Tura.
SASSE: Also, wenn ich für Sie ein Held bin, ist das Ihre Sache, wobei ich Sie nicht stören will.
ZIMMERMANN (lacht)
intimacy-art: Ich darf es begründen: Wenn ich Ihre Biographie lese und erkenne, wie Sie sich in Berlin mithilfe von Journalisten für Ihr Theater einsetzten und gegen Leute - Entscheidungsträger, von denen ihre Existenz abhängt - vorgehen, sodass ich dann empfinde, das ist unfair Ihnen gegenüber ...
SASSE: Aber das macht doch jeder Mensch.
intimacy-art: In dem Ausmaß nicht.
SASSE: Nun, das eigene Schicksal ist ja immer das Furchtbarste.
ZIMMERMANN (lacht): Das stimmt.
intimacy-art: Aber Sie sind als Mensch doch nicht wie der Tura, oder?
SASSE: Nein, ganz sicher nicht. Dann hätte ich wahrscheinlich noch ein Theater ...
intimacy-art: Na, sehen Sie.
SASSE: Aber man muß etwas ganz klar sagen: Ich weiß nicht, welches Theater Sie anspielen. Ich habe ja in Berlin drei geleitet.
intimacy-art: Beim Letzten kam es zu den Diskussionen.
SASSE: Das Letzte, na gut. Eine ganz einfache Geschichte: Die Berliner Schloßpark-Geschichte geht zurück aufs Schiller Theater. Beim Hauptausschuß für Finanzen 1989, wo wir Staatstheater-Intendanten alle zugegen waren, - geleitet vom jungen Herrn Wowereit, weil der Ausschußvorsitzende krank war - sagte derselbe zu Prof. Götz Friedrich, dem Leiter der Oper: "Das Theater vom Sasse ist scheiße, und im Übrigen hat er Etatüberzüge", und der Friedrich sagte, "er kann ja innerhalb der Kameralistik ausgleichen!". Darauf antwortet Wowereit dem Friedrich: "Sie sind ein Dilletant, dem man den Dienstwagen streichen sollte, arbeiten Sie endlich mal was!" Da stehe ich auf, nehme meine Tasche, um zu gehen, und der Friedrich schreit, sodass fast die Fenster rausfliegen: "Was ist, Herr Sasse? Wir wollten Sie gerade wegen der aktuell guten Auslastung loben." Sag ich, "ja, aber ich bleib hier nicht. Ich habe das Gefühl, ich bin hier im Volksgerichtshof. Und ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, Herr Wowereit, Sie wissen ja, dass ich Schauspiel-Intendant bin, falls ich einmal in die Verlegenheit komme, den Dr. Freisler zu besetzen, werde ich Sie anrufen", und gehe raus. Damit war die Todfeindschaft eingeläutet. Und als ich dann am Schloßpark-Theater anfing, war Wowereit in der Regierung. Mir gegenüber sitzend sagte er: "Von mir nicht eine Mark, Herr Sasse, ich finde das Schloßpark-Theater scheiße. Für mich gibt es nur den Castorf." Ich sagte: "Das ist depppert. Den Castorf gibt es für uns alle. Der hat sein Theater im Zentrum, wo er hingehört. Am Schloßpark-Theater verkehrt nicht sein Klientel." So war es. Und als er dann an der Macht war, führte er mithilfe einer von mir gefeuerten Dramaturgin eine Evaluierung durch, wo sie es mir dann gezeigt "haben". Und je weniger Geld du hast, desto politisch schwächer bist du. Dazu kommt die Topographie, wobei das Schloßparktheater im veränderten Berlin tatsächlich in die Peripherie gerutscht war. Dass wir dort tolle Sachen machten, haben die wenigsten gesehen, ebenso wie die Presse nicht, die ja nur nachläuft, wo hinter vermeintlichem Erfolg auch für sie das Geschäft zu stecken scheint. Und ich hänge da also jetzt mit einer Million DM drinnen, die ich aufgenommen habe. Das kann mich meine Existenz kosten. Insofern wäre ich ein Held. Wahrscheinlich bin ich aber doch eher ein Idiot.

Wodurch Theater heute noch relevant wird

ZIMMERMANN: So etwas spürt man in Wien noch nicht so sehr, weil das zumindest an der Oberfläche, eine halbwegs intakte, bürgerliche Stadt ist. Ich glaube aber generell, dass sich die großen Industrienationen in Mitteleuropa in den nächsten zehn Jahren bei immer kleineren Zentren an immer breitere Ränder gewöhnen werden müssen. D.h., Randfiguren wie alte Menschen und unangenehme Hooligans sind Phänomene, mit denen wir uns beschäftigen müssen, und die als "Antihelden" somit zum Mittelpunkt unserer Off-Theater-Schiene wurden. Wien, das sich ja gerne fürs Zentrum hält, soll sich nicht nur im sozialtherapheutischen Sinn damit konfrontieren, sondern um festzustellen: "Das ist so." Das Theater hilft also sehr früh, über Dinge nachzudenken, die man eigentlich noch nicht auszusprechen bereit ist. So wie in den 60er Jahren schon Rolf Hochhuth gleich einer Spiegel-Redaktion über die Rolle der katholischen Kirche in der Nazizeit zu denken gab. Peter Brook brachte das auf den interessanten Gedanken: "Sie müssen doch glauben, dass die Tagesschau die Tagesschau, und der Spielfilm der Spielfilm ist. Es könnte aber auch umgekehrt sein: dass der Spielfilm (Anm. und damit das Theater) die Tagesschau ist."
intimacy-art: Sind dagegen die Inhalte, sprich Probleme, in den westlichen Breiten so irrelevant bzw. subtil geworden, dass sie nur noch durch die besondere und neue Form zum kongenialen Ausdruck finden?
ZIMMERMANN: Es musste in den letzten 50 Jahren sicher in Zentral- und Mitteleuropa niemand mehr seine Heimat aus politischen Gründen verlassen, keine Generationen von jungen Männern wurden mehr in den Krieg geschickt und verheizt, keine Minderheiten massenweise umgebracht. D.h., wir haben zum ersten Mal einen ganz normalen Generationswechsel. Junge Leute entscheiden sich mit 14, 15 in einem guten Bildungssystem zielstrebig fürs Theater und entdecken für sich Formen, die vielleicht Generationen vor ihnen schon mal ganz anders durchdekliniert haben, wirklich neu ist dagegen kaum etwas. Das Theater ist überhaupt der einzige Ort, an dem neu oder alt, jung oder alt, keine Rolle spielt. Es zählt nur, wie plausibel, präzise, mit wieviel Leidenschaft jemand das, was ihn bewegt, auf der Bühne darstellen kann, sodass sich das andere für Geld anschauen wollen. Das Geheimnis des Theaters ist heute nicht, dass es etwas erzählt, was wir nicht schon wüßten, sondern die immer neue Erfahrung bei einem alten Hut wie Romeo und Julia dank einer unverwechselbaren eigenen künstlerischen Energie des Umsetzenden.
SASSE: Bei so einem alten Hut schwingen nur sowohl beim Machenden als auch beim Zuseher Erinnerungen mit. Deshalb muss man es für die Zeit produzieren und zugleich versuchen, die Ecke von dem Jugendlichen zu kriegen, der normalerweise Shakespeare meidet. Andererseits ist viel an Gegenständlichem, wogegen man ist, weg gefallen und nichts ist dazu gekommen. Und da auch die Kirchen dem Menschen nichts mehr sagen können, sehe ich es als Chance des Theaters, jene zu bespielen. - Damit die Leute wissen, warum sie überhaupt noch in die Kirche gehen, und im gelungen Fall eine halbe Stunde diskutieren.
ZIMMERMANN: Das schließt an Ihrer anfänglichen Definition vom Helden an. Der Unterschied ist nur: Im Theater muß ich nicht glauben. Das ist eine absolut undogmatische Kunst.
SASSE: Doch, das müssen Sie! ...




Heribert Sasse (Foto © Michael Dürr, Faksimile)





Lesen Sie demnächst in Teil 2 auf dieser Site: die hitzige Debatte über den Glauben, Hitler als "Helden" und die unterschiedliche Lebens- und Sprachweise der
Generationen

(Interview-Auszug vom 7.5.2003, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

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